Frankreich stellt Leugnung des Völkermordes an den Armeniern unter Strafe

19/09/2008 - le peristyle, la colonnade et le fronton du Palais Bourbon

Am 22. Dezember 2011 verabschiedete die Französische Nationalversammlung ein Gesetz, mit dem die Leugnung des Völkermords an den Armeniern bestraft werden sollte. Initiatorin war die Abgeordnete Valérie Boyer. Wir berichteten. Einen Monat später, am 23. Januar 2012, billigte der Französische Senat dieses Gesetz. Knappen Monat später lag es auf dem Tisch des Französischen Verfassungsrats und wurde am 28. Februar 2012 abgelehnt. Das Gesetz sei verfassungswidrig, hieß es. Im Wesentlichen wurde die Einschränkung der Meinungsfreiheit moniert.

Eine freimütige Äußerung und entlarvende E-Mails

In den Jahren 2007-2016 stand Jean-Louis Debré dem Verfassungsrat vor. Er gehört der Partei UMP (Union pour un mouvement populaire) an, die sich seit Ende Mai 2015 in Les Républicains (LR) umbenannt hat. Parteivorsitzender ist Nicolas Sarkozy.

Im April 2016 erschien Debrés Buch „Ce que je ne pouvais pas dire: 2007-2016“, was in etwa „Was ich nicht sagen konnte“ bedeutet. Ein schöner Titel, spricht Debré doch freimütig aus, weswegen er Ende Februar 2012 eigentlich gegen die Bestrafung der Genozidleugnung war.

Der französische Abgeordnete Patrick Devedjian fasste am 1. Juli 2016 in der Französischen Nationalversammlung seine Lektüreeindrücke so zusammen:

„Cette disposition est d’autant plus bienvenue que j’ai eu la curiosité de rechercher les motivations du Conseil constitutionnel l’ayant amené à annuler cette loi votée par notre Parlement. Jean-Louis Debré, ancien président du Conseil constitutionnel, a bien voulu les détailler dans un ouvrage qu’il vient de publier. On a ainsi la surprise de lire, à la page 100, que le Conseil constitutionnel a pris cette décision parce qu’il ne voulait pas se laisser imposer une lecture de l’Histoire, a fortiori qui ne concerne pas directement la France mais les relations entre des communautés ou peuples étrangers, et qu’il n’est pas normal que la loi française doive se prononcer sur des massacres qui se sont produits au XIXe siècle dans l’empire ottoman.“

Zu Deutsch: Auf Seite 100 seines Buches schreibe Debré: Das ganze ginge Frankreich allenfalls indirekt etwas an, denn schließlich handele es sich um die Beziehungen von zwei fremden Gesellschaften oder Völkern. Und warum sollten französische Gesetze sich mit Massakern befassen, die sich im 19. Jahrhundert im Osmanischen Reich ereignet hätten. Das sei nicht normal.

Im Januar 2015 wurden E-Mails publik, deren Inhalt für die Beteiligten heikel war. Aufgetan hatte sie die in Paris erscheinende Nouvelles d’Arménie bei einer yahoo-Diskussionsgruppe. Die Beteiligten: Hubert Haenel (verstorben August 2015), seit 2010 Mitglied des Verfassungsrats und engagiert bei der pro-türkischen Lobbygruppe Institut du Bosphore. Der andere, Yaşar Yakış, Gründungsmitglied der AKP, ehemaliger türkischer Außenminister, ständiger Vertreter bei der NATO und UNO, und bekannt für seine „kritischen“ Haltung gegenüber den „unbegründeten armenischen Behauptungen“.

Am 1. Februar 2012 schrieb Yakış an Haenel: „Lieber und großer Freund (…) Ich bin so erleichtert, dass es uns gelungen ist, die erforderliche Anzahl von Unterschriften für den Einspruch beim Verfassungsrat für das Gesetz, das den Völkermord an den Armeniern unter Strafe stellt, zusammenzubekommen. Ich konnte nicht anders, als meine Freude mit großen Freunden der Türkei zu teilen. Ich denke, dieser Ausweg hat den Gang der Dinge definitiv geändert (…) Der Fall liegt jetzt in Ihren guten Händen.“ Noch am selben Tag antwortete Haenel: „Ich teile Ihre Erleichterung. Wir haben 30 Tage für die Entscheidung, die Würfel sind gefallen.“

Und am 28. Februar 2012, 14:23 Uhr,  schrieb Haenel an Yakış: „Die Entscheidung des Verfassungsrats wird heute um 17:00 Uhr bekanntgegeben. Sie werden zufrieden sein.“ Wenige Minuten später antwortete Yakış: „Da Sie es sagen, denke ich, dass ich nicht enttäuscht sein werde.“

Neue Anläufe

Auch wenn nachträglich erhebliche Zweifel an der Entscheidung des Verfassungsrats angebracht sind, ändern diese nichts an deren Faktizität.

Einen neuen Entwurf legte Valérie Boyer am 14. Oktober 2014 der Französischen Nationalversammlung vor. Zu einer Debatte im Plenum kam es erst am 3. Dezember 2015. Das Protokoll verrät, dass dieser Versuch nicht von Erfolg gekrönt sein würde.

Einen weiteren Anlauf kündigte der französische Präsident François Hollande am 29. Januar 2016 an. Jean-Paul Costa, ein erfahrener Jurist und ehemaliger Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), werde die Dinge in die Hand nehmen.

Wie dieser neue Versuch aussieht, wurde am 01. Juli klar. Abgestimmt wurde über eine Novelle zum Gesetz „Égalité Et Citoyenneté“ („Gleichheit und Staatsbürgerschaft“) – scheinbar ohne jeden Bezug zum Völkermord an den Armeniern. Die gesamte Debatte dazu ist hier.

Wenn auch die folgende Passage allgemein gehalten ist, deckt sie dennoch neben anderen, ähnlich gelagerten Fällen, auch den Völkermord an den Armeniern ab („historisch anerkannte Verbrechen“). Und ihre Ahndung ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Diese haben wir in der deutschen Fassung hervorgehoben.

„Alors que seule la négation de la Shoah est aujourd’hui réprimée, ce texte permettra de sanctionner la contestation ou la banalisation de l’ensemble des crimes contre l’humanité ou des crimes de guerre, de manière non limitative, dès lors qu’ils auront été. Il permettra, au-delà et de manière plus générale, de prendre en compte des crimes historiquement reconnus, même si leur ancienneté exclut de fait toute possibilité pour la justice de se prononcer, lorsque leur contestation ou leur banalisation sera commise dans des conditions incitant à la haine ou à la violence.“

Zu Deutsch: „Während heute nur die Leugnung des Holocausts geahndet wird, wird dieser Text die Bestrafung von Anfechtung oder Banalisierung von allen Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder von Kriegsverbrechen ermöglichen, wenn diese durch die Rechtsprechung anerkannt worden sind. Zusätzlich wird er ganz allgemein die historisch anerkannten Verbrechen berücksichtigen, wenn ihre Leugnung und Trivialisierung in der Absicht geschieht, Hass oder Gewalt zu schüren, auch wenn es für die Justiz ausgeschlossen ist, darüber zu befinden, weil diese sehr weit zurückliegen.“

Zum jetzigen Zeitpunkt ist noch nicht klar, ob Senat und Verfassungsrat diese Fassung genehmigen werden.

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