Perincek als Kämpfer für die Meinungsfreiheit? Ein anfechtbares ECHR-Urteil

Doğu_Perinçek bei der Leugnungsdemo Lausanne 20050724 WikipediaDie Vorgeschichte

Das Bezirksgericht Lausanne verurteilte Dogu Perincek am 9. März 2007 zu einer Geldstrafe. Er hatte am 24. Juli 2005 bei einer Kundgebung in Lausanne (s. Foto) erklärt, der Genozid an den Armeniern sei eine imperialistische Lüge. Diesem lag ein Schweizer Gesetz zugrunde, das die Leugnung von Genoziden ahndet.

„ ‚Das ist ein rassistisches und imperialistisches Urteil‘, sagte Perincek unmittelbar nach der Verhandlung. Aber das treffe nicht ihn, sondern das Schweizer Volk, das nicht frei über die Geschichte sprechen dürfe, sagte Perincek weiter. Er kündigte an, das Urteil weiterzuziehen. Perincek sieht sich als Opfer in einer Linie mit Galilei, Robespierre und Marx, die ebenfalls für ihre Ideen verurteilt worden seien. Der Richter sei nicht neutral gewesen und hasse ihn. Das Urteil sei eine Revanche des Imperialismus und folge der Unterdrückungspolitik der USA im mittleren Osten, sagte Perincek. Er werde seine Aussagen weiterhin machen. Wissenschaftliche Überzeugungen könnten weder durch Drohungen oder Gefängnis verändert werden, sagte Perincek. Vor Gericht hatte er allerdings gesagt, dass er seine Position auch dann nicht ändern würde, wenn eine unabhängige Expertenkommission zu einem anderen Schluss käme als er“, so die Neue Zürcher Zeitung vom 09.03.2007.

Wer ist Perincek?

Dogu Perincek, Jg. 1942, studierte Jura an der Universität Ankara. Mit Gesinnungsgenossen gründete er 1968 die Zeitschrift Aydınlık, die später als Zeitung erschien. 1969 war er Mitbegründer und Vorsitzender der „Türkiye İhtilalci İşçi Köylü Partisi (TİİKP)“ („Revolutionären Arbeiter- und Bauernpartei der Türkei“). Nach 1991 firmierte die 1978 von der TİİKP abgespaltene „Türkiye İşçi Köylü Partisi (TİKP)“ („Arbeiter- und Bauernpartei der Türkei“) unter dem Namen „İşçi Partisi (İP)“ („Arbeiterpartei“), diese soll angeblich „maoistisch“ sein. Vorsitzender der İP ist bis heute Dogu Perincek .

Von nach Landesart „linken“ Positionen kommend, eignete er sich ab Mitte der 1990er Jahre zunehmend stärker werdende nationalistische Positionen an. Man kann ihn auch als einen Ultranationalisten bezeichnen, der sich eines linken Vokabulars bedient. Er ist (war) Anhänger der eurasischen Bewegung des Russen Alexandr Dugin, mit dem er auch kooperierte. Perincek ist ein entschiedener Gegner der EU-Mitgliedschaft der Türkei.

Titelseite Karen Fogg'un  E-Postallari_InternetIn seinem Buch „Karen Fogg’un E-Postalları (Karen Foggs elektronische Landserstiefel)“, 2002 erschienen, ist diese EU-Gegnerschaft manifest. Die Gleichsetzung der EU mit Nazi-Deutschland im Titelbild (Foto) ist das äußere Zeichen dieser Haltung. Karen Fogg war EU-Botschafterin in der Türkei (1998-2002). Ihre E-Mail-Korrespondenz war von einem Dienst abgefangen und Dogu Perincek zugespielt worden, der diese zuvor in Aydınlık publizierte. Perincek  „entlarvt“ in zwölf Kapiteln eine groß angelegte Konspiration. Der türkische Staat solle erledigt, die türkische Jugend ihres nationalen Charakters beraubt und europäisiert, die türkische Armee aus Zypern entfernt, die „Türkische Republik Nordzypern“ eliminiert werden. Die Legalisierung der PKK sowie die Gründung einer [kurdischen] Verwaltung mit Diyarbakir als Zentrum gehörten zu diesen Plänen ebenso wie die Installierung einer EU-freundlicheren türkischen Regierung. „Nationale Kräfte“ wie Armee, der Prä-sident der Republik, der „Präsident“ der „Türkischen Republik Nordzypern“ sollen durch „psychologische Kriegsführung“ in den Medien verschlissen werden, so Perincek. Westlich orientierte kurdische Intellektuelle, „käufliche“ Gewerkschaftsfunktionäre, freimaurerische Atatürk-Anhänger, Neoliberale, junge Aktivisten aus Zypern , die religiösen Fundamentalisten, sie alle sind nach seiner Lesart die Helfer der ausländischen Mächte. Er machte auch „Kollaborateure“ aus, die Karen Fogg und ihren Hintermännern zuarbeiteten, darunter den ehemaligen und mittlerweile verstorbenen Außenminister Ismail Cem, den ebenfalls ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Mesut Yılmaz, die Arbeitgeberorganisation TÜSIAD, bestimmte NROs, den jüngst verstorbenen prominenten Journalisten Mehmet Ali Birand u.v.a.m.

Zu den nationalen Aktivitäten gehörte Perinceks Teilnahme am kläglich gescheiterten „Marsch auf Berlin“ vom März 2006. Am Samstag, dem 18. März 2006, wollte die stramm nationalistische Talat-Pascha-Bewegung „endlich Schluss machen mit den ‚Genozid-Lügen‘‚ die ‚Periode der Demut‘ beenden und dem Westen endlich die ‚wahre Stärke der Türkei‘ vorführen … Die Organisatoren stellen schon im voraus Forderungen an den deutschen Bundestag, der verfügen soll, dass in keinem deutschen Schulbuch mehr über den Genozid an den Armeniern, den sie ‚Massaker-Lügen‘ nennen, aufgeklärt wird. Auch soll das Parlament (Deutscher Bundestag) seine 2005 einstimmig angenommene Erklärung zu den Morden, die Türken rassistisch erniedrige, zurücknehmen.“ Die Organisatoren, darunter Perincek, sprachen damals davon, „fünf Millionen Türken zum ‚Marsch auf Berlin‘, dann auf Brüssel und Paris“ zu mobilisieren, gekommen sind nach Polizeiangaben allenfalls 1.700 Menschen zum Steinplatz in Berlin-Mitte. „Dort wurde 1921 Talat, den Adolf Hitler bewunderte, von einem Armenier erschossen“. Alle Zitate in diesem Absatz aus Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 03.02.2006.

Seine Zeitung Aydınlık wurde mit der Zeit immer mehr zu einem Verlautbarungsorgan der türkischen Streitkräfte, die brisantes Material auf diesem Weg in Umlauf brachten, ebenso der von ihm betriebene Fernsehsender Ulusal Kanal (Nationaler Kanal). Die „Arbeiterpartei“ ist mit einem Stimmenanteil von 0,38% (2007) allenfalls eine marginale Größe. Parteiaktivisten bemühen sich nach wie vor mit Störaktionen auf sich aufmerksam zu machen, so z.B. bei den Veranstaltungen vom November 2012 in Berlin und Köln, bei denen Hasan Cemal, der Enkel von Cemal Pascha, sein Buch „1915 – Ermeni Soykirimi“ („1915 – Völkermord an den Armeniern“) vorstellte.

Im Rahmen der Ermittlungen gegen die Terror-Organisation Ergenekon wurde Perincek im März 2008 verhaftet und im August 2013 zu lebenslanger Haft und zusätzlich 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Ihm war vorgeworfen wurden „Führer einer terroristischen Organisation“ zu sein.

Das Urteil des ECHR

Perincek rief nach dem Urteil des Bezirksgerichts Lausanne den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR) an. Am 17. Dezember 2013 entschieden die Richter der Kleinen Kammer des ECHR in Straßburg mehrheitlich, dass Art. 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) der Europäischen Konvention für Menschenrechte und Grundfreiheiten verletzt worden sei.

Perincek hatte zusätzlich auf Verletzung der Art. 6 (Recht auf ein faires Verfahren), 7 (Keine Strafe ohne Gesetz), 14 (Diskriminierungsverbot), 17 (Verbot des Missbrauchs der Rechte) und 18 (Begrenzung der Rechtseinschränkungen) geklagt. Alle diese Punkte wies der ECHR ab, auch seine Forderung nach Entschädigung.

Das Urteil (auf Französisch) und die Presseerklärung (auf Englisch)  sind allgemein zugänglich.

Die Entscheidung der Kleinen Kammer (Zusammensetzung: Guido Raimondi (Italien), Präsident, Peer Lorenzen (Dänemark), Dragoljub Popović (Serbien), András Sajó (Ungan), Nebojša Vučinić (Montenegro), Paulo Pinto de Albuquerque (Portugal), Helen Keller (Schweiz)) fiel mit 5:2 mehrheitlich. Dagegen stimmten die Richter Vučinić und Pinto.

Diese abweichenden Stimmen werden in der Presserklärung nicht gewürdigt, ihnen sind im Urteil die Seiten 62-80 gewidmet. Als interne Kritik der Beteiligten des ECHR kommt ihnen besondere Bedeutung zu. Einige Aspekte (den Zitaten liegt eine nicht offizielle deutsche Übersetzung zugrunde):

Die Argumente von Vučinić und Pinto – Ein Querschnitt

1. Von zentraler Bedeutung ist diese Anmerkung: „Der Fall Perincek wirft zwei grundlegende rechtliche Fragen auf, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (der Gerichtshof) noch nie angesprochen hat: die internationale Anerkennung des Genozids an den Armeniern und die Kriminalisierung der Leugnung von Genoziden (…) wir glauben, dass Fragen dieser Größenordnung eine Entscheidung der Großen Kammer erfordern.“

2. Ein wesentliches Argument bei der Mehrheitsmeinung war, dass der Völkermord an den Armeniern – im Gegensatz zum Holocaust – international von weniger Staaten anerkannt sei. Hierzu treten Vučinić und Pinto im Abschnitt „Internationale Anerkennung des Genozids an den Armeniern“ (S. 62 – 69) den Gegenbeweis an. Besonders bedeutsam erscheint uns u.a. die Fußnote 27 (S. 65), denn dort wird Bezug auf diplomatische Aktenstücke genommen, auch zu jenen des Auswärtigen Amtes mit expliziter Nennung der Webseite armenocide.de, wodurch Vučinić und Pinto unterstreichen, dass hier die Zahl der Länder, die einen Völkermord anerkannt haben, nicht das einzige Kriterium sein kann.

3. „Der Genozid an den Armeniern ist von der internationalen Gemeinschaft und vom beklagten Staat [die Schweiz] anerkannt worden, der Eingriff in die Meinungsfreiheit des Antragstellers war rechtmäßig, da die Kriminalisierung der Leugnung des Völkermords an den Armeniern nach Schweizer Recht hinreichend belegt worden ist und die Bestimmungen des relevanten Gesetzes in einer Weise definiert wurden, die weder zu allgemein noch zu vage sind.“ (S. 69)

4. Dass bekanntlich die Berufung auf die Meinungsfreit nicht alles rechtfertigt, wird am vorliegenden Fall unterstrichen und untermauert: „Die Kriminalisierung von Völkermord-Leugnung ist mit der Meinungsfreiheit vereinbar, und es ist sogar im Rahmen des europäischen Systems zum Schutz der Menschenrechte erforderlich. In der Tat, die Vertragsstaaten der Konvention [für Menschenrechte und Grundfreiheiten] sind gehalten, Reden und Versammlungen, die Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, ethnische und andere Formen der Intoleranz verbreiten, zu verbieten, und jede Gruppe, jede Vereinigung und jede Partei, die dies befürwortet, aufzulösen. Diese Verpflichtung als Grundsatz des völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts ist bindend für alle Staaten, und ist eine zwingende Norm, von der durch keine andere Vorschrift des nationalen oder internationalen Rechts abgewichen werden kann.“ (S. 71/72)

5. Und schließlich: Wie sind Perinceks Äußerungen einzuordnen? “Die Motivation des Antragstellers ist ein faktisches Element, das nur vom staatlichen [Schweizer] Gericht festgestellt werden konnte, welches zu diesem Zweck Beweise gesammelt und geprüft hat. Das Gericht ist durch die feststehende Tatsache gebunden, wonach seine [des Antragstellers] Motivation eine ‚rassistische‘ war, es kann an dieser Tatsache nichts ändern. Diese ist von entscheidender Bedeutung. Sie zeigt, dass der Antragsteller nicht nur vorhatte, die Faktizität des Genozids an den Armeniern zu leugnen, sondern darüber hinaus die Opfer und die Welt der Geschichtsfälschung zu bezichtigen, die Armenier als Aggressoren darzustellen und die genozidale osmanische Politik zu rechtfertigen, indem er diese als einen Akt der Selbstverteidigung präsentierte, das Ausmaß der Gräueltaten und das vom türkischen Staat den Armeniern zugefügte Leid minimierte, und die Armenier sowohl in der Schweiz als auch auf der ganzen Welt absichtlich hasserfüllt und ‚rassistisch‘ beleidigte. Die von ihm verwendeten Begriffe ‚internationale Lüge‘, ‚historische Lüge‘ und ‚imperialistische Lüge‘ übersteigen deutlich die Grenzen der Meinungsfreiheit, weil sie die Opfer zum Lügner stempeln.“ (S. 77/78)

Erste Reaktionen aus der Türkei

In Today’s Zaman vom 22.12.2013 – sie ist das Sprachrohr der Gülen-Bewegung – heißt es: „Tatsächlich sollte die Entscheidung als der bislang beste strategische Gewinn der Türkei angesehen werden. Diese juristische Entscheidung wird die Türkei – je näher 2015 heranrückt – mächtig unterstützen.“ Hier unterliegt der Verfasser einem Irrtum, denn das – vorläufige – Urteil der Kleinen Kammer des ECHR sagt lediglich, dass die Leugnung dieses Genozids gemäß Art. 10 der Europäischen Konvention für Menschenrechte und Grundfreiheiten statthaft ist. Es sagt nichts zu seiner Faktizität.

Prof. Baskin Oran, der bei der innenpolitischen Debatte um die Rechte der Minderheiten (auch der Armenier) sich durchaus verdient gemacht hat, spricht in Radikal Iki vom 22.12.2012 von „Verdiensten“ Perinceks. Eines davon ist seiner Ansicht nach, dass dieses Urteil „die internationalen Bemühungen, selbst die Diskussion über die Armenischen Massaker zu verbieten, vereiteln könnte“.

Wir geht es weiter?

Ob es so kommen wird, wie von Prof. Oran vermutet, das werden wir sehen.

Und wir werden vor allem sehen, ob dieses Urteil überhaupt Bestand haben wird. Denn die Schweiz kann es innerhalb einer Frist von 3 Monaten anfechten. In dem Fall muss der Fall Perincek . / . Schweiz zwingend vor der Großen Kammer des ECHR verhandelt werden, wofür die Richter Vučinić und Pinto plädiert haben.

In einem lesenswerten Interview der Basler Zeitung vom 19.12.2013 mit Gerhard Fiolka, Professor für internationales Strafrecht an der Universität Freiburg (Schweiz), sagte dieser: „Die Schweiz hat auch schon Urteile an die Grosse Kammer weitergezogen und ein völlig gegenläufiges Urteil erwirkt. Da die Begründung des Urteils verschiedene Schwachstellen aufweist, scheint mir die Aussicht auch hier intakt.“

Petition gegen das Urteil

Gegenwärtig ist die Petition „Denialism : Petition against the rogue decision of the European Court of Human Rights“ im Umlauf.

 

 

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