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Bundestag unbeirrt: 1915 war Völkermord
Es kam tatsächlich so, wie bei der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beantragten Debatte am 25. Februar 2016 zum Völkermord an den Armeniern beschlossen worden war.
Noch im ersten Halbjahr sollte ein gemeinsamer Antrag von CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem Bundestags vorgelegt und beschlossen werden. Bald standen das Datum, 2. Juni, und der Titel fest: „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916„.
Über 500 türkische Gruppen, überwiegend Moscheevereine – Gliederungen der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (Diyanet İşleri Başkanlığı (deutsch: Präsidium für Religionsangelegenheiten (staatlich finanziert und kontrolliert)), abgekürzt mit Diyanet) und nationalistische Grüppchen, protestierten gemeinsam und versuchten – ganz im Sinne Ankaras – zu „beweisen“, dass es keinen Völkermord gegeben hatte – zum wievielten Mal eigentlich? Eine Replik auf die Behauptungen dieser Gruppen.
Es blieb nicht bei Protestschreiben. Wie Spiegel Online berichtete, haben Abgeordnete – insbesondere mit türkischen Wurzeln – Schmähbriefe erhalten. Cem Özdemir, Chef der Grünen, berichtete von Beschimpfungen per E-Mail, Facebook und Twitter. „Es sind immer die gleichen Ausdrücke: ‚Verräter,‘ ‚Armenierschwein‘, ‚Hurensohn‘, ‚armenischer Terrorist‘ und sogar ‚Nazi'“, sagte er der ARD.
Auch Journalisten, die über das Thema schreiben und den Begriff Völkermord oder Genozid benutzen, berichten von Drohungen. „Du gehörst beseitigt“, heißt es in einer E-Mail, oder: „Dein Ende wird sein wie das von Hrant Dink.“
Die Deutsch-Armenische Gesellschaft bekam von kurdischen und türkischen NGOs, WissenschaftlerInnen, Intellektuellen, PolitikerInnen, JournalistInnen und Einzelpersonen ihr Plädoyer an den Bundestag, mit dem sie um die Anerkennung des Völkermords werben.
Für allgemeines Kopfschütteln sorgte die Integrationsbeauftragte Özoguz, als sie gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio mutig sagte, sie befürchte, dass durch die Genozid-Resolution die Aufarbeitung zwischen der Türkei und Armenien „sogar verhindert“ werde. Wie die Türkei die Vorgänge „aufarbeitet“, kann man exemplarisch an den aktuellen Schulbüchern für Geschichte sehen. Hier ein weiterer Artikel dazu.
Aus Ankara hagelten Proteste, von „Konsequenzen“ war die Rede. AKP, CHP und MHP verabschiedeten im Auswärtigen Ausschuss der Großen Nationalversammlung der Türkei schon im Vorfeld eine Erklärung, in der es hieß, der Antrag beinhalte die „grundlosen armenischen Behauptungen“ und würde die „Meinungsfreiheit“ missachten. Mehr dazu in der ADK. Die HDP lehnte die Erklärung ab.
Druck gab es auch seitens der Bundesregierung. Die FAZ schrieb:
„Die Abstimmung im Bundestag ist Ausdruck einer parlamentarischen Selbstbehauptung. Im vergangenen Jahr hatte der Bundestag auf Druck des Kanzleramtes und des Auswärtigen Amtes noch auf die Klassifizierung der Massaker an den Armeniern als Völkermord in Form einer Entschließung verzichtet. Nun trifft die Resolution Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier inmitten der Flüchtlingskrise und größer gewordener Abhängigkeiten zwischen Berlin und Ankara umso härter.
Die damalige Begründung Steinmeiers – Merkel zog es vor zu schweigen -, er habe darauf gesetzt, Türken und Armenier zu einer gemeinsamen Aufarbeitung der Geschichte gewinnen zu können, statt den sensiblen Prozess durch das Wort „Genozid“ zu gefährden, ist nicht nur eine diplomatische Ausflucht, sondern birgt auch eine irritierende Selbstgerechtigkeit: Deutschland, das eine Mitverantwortung trägt, weil es den Völkermord des Waffenbruders im Ersten Weltkrieg duldete, als Exporteur vergangenheitspolitischer Pädagogik?“
Gruppenbild mit den MdBs Özdemir, Jelpke, Maiwald: Entspannte Gesichter nach der Abstimmung
Am 2. Juni fehlten die Kanzlerin Merkel, Außenminister Steinmeier und Vizekanzler Gabriel. Auch im Ausland fiel das auf. Die serbische Zeitung Politika (zitiert nach Pressespiegel Deutschlandfunk vom 3. Juni): „Als die große Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag das Massaker an den Armeniern 1915 im Osmanischen Reich als Völkermord einstufte, war Bundeskanzlerin Merkel wegen angeblich unaufschiebbarer Termine der Abstimmung fern geblieben. Ebenso fehlten zwei weitere wichtige Mitglieder der deutschen Regierung: Vizekanzler Gabriel und Außenminister Steinmeier. Während Frau Merkel einen Tag davor wenigstens erklärt hatte, dass sie die Resolution über den Völkermord unterstützt, äußerte sich der deutsche Außenminister in Zeitungsinterviews abwertend über den Sinn solch einer Resolution.“
Parlamentspräsident Norbert Lammert bezog sich bei seinen einleitenden Worten auf die Drohungen, die es von türkischen Organisationen gegen die Bundestagsabgeordneten gegeben hat, und sagte: „Wir werden sie nicht hinnehmen und uns ganz gewiss von ihnen nicht einschüchtern lassen“ sagte. Und Rolf Mützenich (SPD), stellte allgemeiner fest: „Wir als Abgeordnete lassen uns nicht einschüchtern – egal von welcher Seite.“
Die Debatte verlief am 2. Juni sachlich und engagiert. Und der Bundestag war sehr gut gefüllt. Das Video der Debatte und die Einzelbeträge der Abgeordneten können über unsere Videodatei abgerufen werden. Das Protokoll kann hier nachgelesen werden. Aus gegebenem Anlass erinnern wir auch an unsere Seite „Der Genozid an den Armeniern vor dem Deutschen Bundestag„.
Bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung (beide aus der CDU/CSU) verabschiedete die überwältigende Mehrheit den Antrag von CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Bemerkenswert war, dass DIE LINKE, obwohl am Antrag nicht beteiligt, diesem geschlossen zustimmte. So wurde der Völkermord an den Armeniern von Deutschland nach 101 langen Jahren endlich als Völkermord anerkannt!
Eine Bewertung soll in der Juni-Ausgabe der ADK vorgenommen werden.
Reaktionen
Überaus unangenehm fiel der neue türkische Ministerpräsident Binali Yıldırım auf, als er noch vor der Abstimmung feststellte: „Das ist eine unsinnige Abstimmung. [Der Völkermord an den Armeniern, R.K.] ist eines dieser gewöhnlichen Ereignisse, die es unter den Bedingungen des Ersten Weltkrieges in allen Ländern gegeben hat. (Hervorhebung durch uns, R.K.)“ („Bu oylama çok saçma bir oylama. Olmayan, 1915’de 1. Dünya Savaşı şartlarında yaşanmış, her ülkede yaşanan sıradan olaylardan biri.“) Ansonsten beschwichtigte Binali Yıldırım die deutsche Seite, am Flüchtlingsdeal werde man festhalten. Als „Zeichen des Protests“ wurde Botschafter Karslıoğlu nach Ankara zurückbeordert. Dass er wie all seine Kollegen zuvor nach einer Schamfrist wieder nach Berlin zurückkehren wird, gilt als sicher.
Auch das Parlament meldete sich zu Wort: In der Resolution der Parteien AKP, CHP und MHP heißt es, dass die türkischen Abgeordneten „entschieden“ die deutsche Resolution verurteilen, da sie auf „grundlosen armenischen Behauptungen“ basiere. Die Resolution des Bundestags entbehre „jeder historischen und rechtlichen Gültigkeit“. Die Erklärung fordert die eigene Regierung ferner auf, zur Wahrung der türkischen Interessen „die nötigen Maßnahmen und Entscheidungen“ zu treffen. Die HDP beteiligte sich nicht an dieser Resolution.
Die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) bezeichnete die Bundestagsdebatte als „Polit-Show„.
Die mehrheitlich regierungsnahen türkischen Medien verurteilten die Bundestagsresolution.
Die Zeitung Sözcü – sie bezeichnet sich als regierungskritisch – wollte sich als Superpatriotin präsentieren und zeigte Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Fotomontage mit Hitlerbart und in Nazi-Uniform vor einer Hakenkreuzflagge. Der Aufmacher dazu lautete: „Schämen Sie sich!“, im Artikel darunter hieß es: „Hitlers Enkel haben die Türkei des Genozids bezichtigt. Deutschland, das im Zweiten Weltkrieg Völkermord begangen hat, indem es sechs Millionen Juden massakrierte, und das mit Waffenlieferungen an die PKK den Weg dafür bereitet hat, dass unsere Kinder zu Märtyrern werden, hat den sogenannten armenischen Genozid ratifiziert. Wir sind wütend!“ (Zitat nach FAZ vom 4. Juni)
Cumhuriyet titelte: „Die Einsamkeit von 1915“.
In Meydan Gazetesi (zitiert nach Pressespiegel Deutschlandfunk vom 3. Juni) konnte man diese selbstkritischen Zeilen lesen:
„Ankara ist in der Armenien-Frage seit 100 Jahren keinen Schritt weitergekommen. Deswegen muss sich die Türkei auch ständig Kritik gefallen lassen. Ist es nicht an der Zeit, dies zu ändern, die gescheiterte Position aufzugeben? Wir können nicht weiterhin so tun, als ob die Ereignisse von 1915 bloß eine Banalität gewesen wären. Die Schere zwischen uns und den USA und Europa geht immer weiter auseinander. Außenpolitisch steckt Ankara in der Sackgasse, die Regierung muss das dringend ändern.“
Im Plenarsaal und außerhalb zeigten die Armenier ihre Freude (s. die beiden Fotos).
Armenische Jugendliche zogen zur Deutschen Botschaft in Jerewan und bedankten sich. Das Video.
Die Erleichterung in den armenischen Medien war unübersehbar.
Dankesschreiben schickten Präsident Sargsyan (er hatte am 1. Juni über BILD sich an den Bundestag gewandt), Katholikos Aller Armenier und der Katholikos des Hohen Hauses von Kilikien.
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