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Erdogans Botschaft – eine vertane Chance
Am 23. April 2014 machte eine Erklärung des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan die Runde – schon durch die Vielzahl der Sprachen. Sie erschien neben Türkisch in acht weiteren Sprachen, darunter auf West- und Ostarmenisch. Trotz ihres unscheinbaren Titels „Die Botschaft unseres Ministerpräsidenten zu den Geschehnissen von 1915“ wurde sie vielfach verbreitet und kommentiert.
Für Aufmerksamkeit sorgten darin Formulierungen wie diese (die Zitate stammen aus der inoffiziellen deutschen Fassung des Amtes des türkischen Ministerpräsidenten):
„Es lässt sich nicht abstreiten, dass die letzten Jahre des Osmanischen Reiches (…) für (…) Armenier (…) eine schwierige Zeit voller Schmerz waren.“
„(…) ist es eine menschliche Pflicht, (…) das Gedenken der Armenier an die Erinnerung an das Leid, das die Armenier zu jener Zeit durchlebt haben, zu verstehen und es mit ihnen zu teilen.“
„Wünschen wir, dass die Armenier, die unter den Bedingungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts umkamen, in Frieden ruhen, und sprechen ihren Enkeln unser Beileid aus.“
Das ist neu, und so titelten viele Medien sinngemäß, die Türkei habe 99 Jahre nach 1915 den Armeniern ihr Beileid gesprochen.
Eigentlich müsste es heißen, auch den Armeniern.
Denn die Zitate sehen in der vollständigen Fassung so aus (Hervorhebungen durch uns):
„Es lässt sich nicht abstreiten, dass die letzten Jahre des Osmanischen Reiches, gleich welcher Religion oder ethnischer Herkunft sie angehörten, für Türken, Kurden, Araber, Armenier und Millionen weiterer osmanischer Bürger eine schwierige Zeit voller Schmerz waren.“
„Wie bei allen Bürgern des Osmanischen Reiches ist es eine menschliche Pflicht, auch das Gedenken der Armenier an die Erinnerung an das Leid, das die Armenier zu jener Zeit durchlebt haben, zu verstehen und es mit ihnen zu teilen.“
Und Zitat 3 folgt das: „Auch gedenken wir aller osmanischen Bürger gleich welcher ethnischen und religiösen Herkunft, die damals unter ähnlichen Bedingungen ihr Leben ließen, mit Respekt. Mögen sie alle in Frieden ruhen.”
Also haben damals alle Menschen des Osmanischen Reiches gelitten, also gedenken wir aller. Und der Text belehrt uns: Alles andere wäre „unfair und unaufrichtig“.
Dieses Narrativ ist nicht neu. Außenminister Davutoglu propagiert es seit einiger Zeit, er nennt das „gerechtes Gedächtnis“ („adil hafiza“). Der Vorteil: Da damals alle gelitten haben, muss keine Gruppe hervorgehoben werden, das wäre auch „ungerecht“. Doch stimmt das?
Was haben diese Menschen durchgemacht? Erdogan spricht von „Ereignissen mit unmenschlichen Folgen, wie Umsiedlungen, bei denen während des Ersten Weltkriegs Millionen von Menschen aller Religionen und Volksgruppen ihr Leben ließen.“ Nach seiner Lesart sind Türken, Kurden, Armenier und die anderen u.a. umgesiedelt worden. Was er nicht sagt, wer diese „Ereignisse“ angeordnet, sie durchgeführt hat, wer die Verantwortung für sie trägt.
Gegen Ende wird es noch nebulöser, Erdogan spricht nun von den „Armeniern, die unter den Bedingungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts umkamen.“ Was für Bedingungen sollen das gewesen sein, die den Tod so vieler Menschen nach sich gezogen haben? Auch dazu erfahren wir nichts.
Verkürzt heißt das: Wir haben nur Opfer, aber keine Täter. Implizit ist die Frage nach den Tätern offenbar nicht erwünscht. Denn dann könnte es herauskommen, dass bestimmte Gruppen mehr Täter waren als Opfer, einige sogar nur Täter. Das Narrativ, dass alle Schlimmes durchgemacht haben, soll solchen Fragen und Debatten einen Riegel vorschieben. Auch der Frage, warum bestimmte Völker wie die Armenier in Anatolien nahezu vollständig ausgerottet worden sind.
Zwar sollen „in der Türkei unterschiedliche Meinungen und Gedanken zu den Ereignissen von 1915 frei geäußert werden können“, aber innerhalb bestimmter Grenzen. Einige könnten „beschuldigend, verletzend, hetzerisch“ sein. Wer bestimmt, dass sie so sind? Und was passiert, wenn sie so sind?
Für Erdogan ist die „gemeinsame Geschichtskommission“ die Methode der Wahl bei der „Aufklärung der Ereignisse von 1915“ und dem „richtigen Verständnis der Geschichte“. Übrigens: Wer bestimmt, welches Verständnis der Geschichte das richtige ist?
Doch die „Ereignisse von 1915“ sind wissenschaftlich schon längst geklärt. Handverlesene türkische Historiker würden/sollen die staatliche Sicht repräsentierten, so die Vorstellung der Regierenden. Aber nehmen wir einmal an, dass ein Teil dieser Kommission zum Ergebnis kommt, 1915 habe es ein Genozid stattgefunden, dürfte sie ein solches Ergebnis überhaupt kundtun? Wäre gerade das nicht im Sinne von Erdogan „beschuldigend, verletzend, hetzerisch“? Und weiter: Was ist unter „Genozid“ zu verstehen? Erdogan hat eine ganz eigene Sicht dazu. Als der US-amerikanische Fernsehsender PBS Erdogan am 27. April fragte, ob er „die Geschehnisse von 1915“ als Genozid umschreiben würde, antwortete er: „Wenn es einen Genozid gegeben hätte, würde es heute in diesem Land [Türkei] überhaupt Armenier geben?“ Nimmt man Erdogans Verständnis der Dinge als Messlatte, so hat es in der Weltgeschichte noch nie ein Genozid gegeben. Denn nach dem Holocaust lebten noch Juden, nach dem Völkermord in Kambodscha noch Kambodschaner und in Ruanda soll es noch Tutsis geben.
Mögliche Auswirkungen
Erdogans Image hat in der letzten Zeit durch sein zunehmend autoritäres Auftreten und Politik stark gelitten, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung, auch des Westens. Seine „versöhnliche“ Botschaft könnte ein korrektiv sein. Allerdings ist anzumerken, dass der Völkermord an den Armeniern bei der Realpolitik vieler westlicher Staaten einen allenfalls symbolischen Stellenwert hat, sodass eine „Veränderung“ bei dieser Thematik keinen substantiellen Wandel in der Wahrnehmung Erdogans nach sich ziehen dürfte.
Eine sicherlich dominante Rolle spielt der bevorstehende 100. Gedenktag des Völkermords an den Armeniern. Dafür spricht auch das gewählte Datum der Botschaft: Einen Tag vor dem 99. Jahrestag. Die erwarteten Aktivitäten in 2015, einschließlich der politischen Verlautbarungen und Resolutionen, sind ein Alptraum für die türkischen Regierenden. So stehen zwei Adressaten im Fokus. Zum einen die westlichen Staaten bzw. Organisationen, zum anderen die Armenier in der Diaspora und in der Republik Armenien.
Nicht auszuschließen ist, dass man in Ankara davon ausgegangen ist, dass schon die „Beileidsbekundung“ an sich die Bereitschaft einiger westlicher Staaten, 2015 besondere Anstrengungen zu unternehmen, dämpfen, wenn nicht sogar unterbinden wird – ohne eine eingehende Prüfung der Erklärung. Bereits in der Vergangenheit waren „Dialogversuche“ der armenischen und der türkischen Seite – unabhängig vom ihrem Ausgang – Argumente für Zurückhaltung.
Die armenische Diaspora ist nach türkischer Auffassung besonders gefährlich. Diese können in zwei wichtigen Staaten (USA und Frankreich) u.U. gesetzgeberische Initiativen beeinflussen. Man hofft, dass schon der versöhnliche Ton und die Beileidsbekundung zu einem Politikwechsel führen könnten. Die ersten Reaktionen der Diaspora oszillieren hingegen zwischen einer schroffen Ablehnung und einer differenzierteren Position, die klar die Defizite benennt. Eine bedingungslose Zustimmung war nicht anzutreffen.
Der dritte Adressat ist schließlich die Republik Armenien, mit der nach türkischer Auffassung ein gesonderter Dialog geführt werden muss. Hier meint man mit dem äußeren, versöhnlichen Merkmal etwas wieder zu beleben, das ganz besonders die USA aus geostrategischen Gründen sich wünschen: Den Annäherungsprozess der beiden Länder, der durch die Züricher Protokolle eingeleitet werden sollte und doch gescheitert ist, wiederzubeleben. Interessant ist, dass das State Department Erdogans Schritt durchaus wohlwollend kommentiert hat. Man könnte sich durchaus vorstellen, dass amerikanische „Anregungen“ eine Rolle bei Erdogans Erklärung gespielt haben. Ein sichtliches Bemühen um verbale Entspannung kann man deutlich auch in der Botschaft des armenischen Präsidenten Sargsyan ebenfalls am 23. April verbreiteten Erklärung erkennen.
Zum einen stellt er fest, dass Armenien die türkische Gesellschaft nicht als Feind betrachtet. Zum anderen weist er deutlich auf das Verdienst derjenigen Türken hin, die 1915 Armenier gerettet und beschützt haben. Daneben enthält die Botschaft durchaus Aspekte, die darauf hindeuten, dass Armenien eine Widerbelebung der bilateralen Beziehungen wünscht. Sargsyan – quasi als Replik auf Erdogan: „Die Haltung zu Armenien kann nicht mehr mit Worten zum Ausdruck gebracht werden, sie setzt klare Schritte voraus: Die Öffnung der geschlossenen Grenzen und die Aufnahme von formellen Beziehungen. Unsere Position zu den armenisch-türkischen Protokollen hat sich nicht geändert und die Idee von den ‚vernünftigen Bedingungen‘ ist dringlicher denn je.“
Bereits 2009 hatte Aserbaidschan sehr aggressiv auf die Protokolle reagiert und die Türkei – in energiepolitischer Hinsicht von Baku abhängig – war sichtlich bemüht, ihren Partner zu beschwichtigen. Das Ergebnis ist bekannt. Ähnliches passierte jetzt unmittelbar nach Erdogans Erklärung, sodass die Annahme, seine „Empathiebekundungen“ dienten u.a. dazu, ein günstiges Umfeld für einen zweiten Anlauf zu schaffen, durchaus plausibel ist. Da aber seit 2009 weder an der türkischen Abhängigkeit von Baku noch an dessen „Sensibilität“ sich etwas geändert hat, fragt man sich, was dieser erneute Anlauf bringen wird.
Eine überaus interessante Frage ist die innenpolitische Ausstrahlung der Erklärung. Die Partei der Nationalistischen Bewegung MHP und die Republikanische Partei CHP haben damit Probleme. Das bietet Erdogan die Chance, sich dem Ausland gegenüber – wieder einmal – als den „einzigen Tabubrecher“ zu präsentieren.
Nicht auszuschließen, dass seiner Erklärung trotz alledem eine subversive Kraft innewohnt, die so nicht vorgesehen war. Die mehrfache Beileidsbekundung könnte gerade in den Köpfen derer, die dank der bisherigen staatlichen Politik des Verschweigens von 1915 wenig bis nichts gehört hatten, Fragezeichen auftauchen. Und manch einer fasst sich vielleicht Mut und spricht öffentlich darüber. So fing es auch bei denen an, die heute die Aufklärungsarbeit in der Türkei vorantreiben und dafür viel riskiert haben.
Die türkischen Liberalen, die sich seit Jahren für eine Öffnung bei dieser Frage einsetzen, sind mit Erdogans Schritt zwar einverstanden, finden aber, dass er hätte weiter gehen müssen. So schrieb der bekannte Kolumnist Cengiz Çandar am 24. April in Radikal: „Für uns alle ist die ‚Angelegenheit‘ vor allem eine ‚moralische‘ und ‚menschliche‘. Wenn wir anstatt, das was 1915 passiert ist, anzuerkennen, dafür nach ‚Ausreden‘ suchen, so verrotten wir alle miteinander. Wenn wir sie anerkennen, werden wir ‚frei‘.“
Und Bülent Keneş vermutet: „Diese Botschaft hat nicht die Lösung des Problems und eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zum Ziel, damit die Wahrheit – selbst wenn sie uns nicht gefällt – zu Tage gefördert wird. Vielmehr zielt sie darauf ab, ein großes Problem zeitweilig loszuwerden und Zeit zu gewinnen.“ (Today’s Zaman, 24.4.2014)
Erdogans „Botschaft“ hat vordergründig Hoffnungen auf einen Durchbruch geweckt. Herausgekommen ist eine allgemein gehaltene, juristisch abgezirkelte, taktisch und rhetorisch durchgestylte „Botschaft“, die weder die entscheidenden Fragen noch deren Antworten enthält. Ihr fehlt vor allem an moralischer Größe. Die Bitte um Verzeihung bei den Nachfahren der Opfer wäre ein erster Schritt gewesen – nach 99 Jahren. So wird man den „Geschehnissen von 1915“ nicht gerecht, so nicht.
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