Über das Unsagbare schreiben für Frieden und Dialog

Das Unsagbare schreiben_Podiumsdiskussion_Internet_2Von Songül Kaya-Karadağ

Die Tagung „Über das Unsagbare schreiben – Prosa über Völkermord“, eine gemeinsame Veranstaltung der Evangelischen Akademie Berlin, der Arbeitsgruppe Anerkennung – Gegen Genozid, für Völkerverständigung e. V. (AGA) und der Deutsch-Armenischen Gesellschaft e. V. (DAG) fand vom 11.-13. Oktober in Berlin-Schwanenwerder statt.

Gegenstand der Tagung waren Völkermorde in diversen Ländern, die Eingang in die Literatur gefunden haben. Die Veranstaltung, zu der Literaturwissenschaftler, Autoren und Dichter als Referenten eingeladen worden waren, beeindruckte durch die Kompetenz, Fundus und Erfahrung der letztgenannten. Folglich gingen sowohl die literarischen wie auch literaturwissenschaftlichen Auftritte mit einem produktiven und intensiven Gedankenaustausch zu Ende. Tessa Hofmann, die sich bei der Ausarbeitung des Konzepts besonders hervorgetan hatte, gab in ihrem abschließenden Statement bekannt, dass die Beiträge in Buchform erscheinen werden. Raffi Kantian von der DAG, der bei dieser Veranstaltung ebenfalls eine aktive Rolle übernommen hatte, wies darauf hin, dass es notwendig sei, Genozide, die bislang eher bei politischen Veranstaltungen thematisiert wurden, auch so bewertet werden müssten, wie sie Eingang in literarische Texte gefunden haben. Er unterstrich, dass eine solche Herangehensweise besonders bei Völkermorden das Menschenbild durch die Dichotomie Opfer-Täter in den Vordergrund rücken würde.

Die Referate

Am ersten Tag thematisierte Dr. Michaela Prinzinger ausgehend von Elias Venezis’ autobiografischen Roman „Nummer 31328” – darin werden seine Erlebnisse als Gefangener der Türken im Jahre 1922 geschildert – die Deportationspolitik gegen die Griechen in Westanatolien. Venezis schildert als Ich-Erzähler von menschlichem Leid und menschlichen Beziehungen, von Frauen und Müttern, die Widersprüche zwischen den Herrschenden und dem einfachem Volk emotional und subjektiv. Die mehrheitlich auf Beobachtungen und Reflexionen basierenden Bewertungen führen zwei extreme Rollen, nämlich die des Soldaten und der von diesen kontrollierten Kriegsgefangenen, vor Augen. Darüber hinaus wurden in den Naturbeschreibungen Orte und die Identität derer, die ihr Zuhause verlassen mussten, ebenfalls subjektiv dargestellt. Dr. Michaela Prinzinger bereicherte ihre Darstellung mit Filmausschnitten und visualisierte so bestimmte Abschnitte des Buches. Bei diesem ersten Referat fiel auf, dass die Protagonisten, die Opfer einer Vertreibung wurden, trotz des seelischen Zusammenbruchs sich bemühten am Leben zu bleiben. Dass man dieses Bemühen trotz der Darstellung im Buch nicht verallgemeinern könne, betonte Michaela Prinzinger und fügte hinzu, dass dies dem subjektiven Blick des Erzählers geschuldet sei. Dass die Erzählung in der Morgendämmerung zu Ende geht, interpretierte sie als „Hoffnung“.

Prof. Dr. Magdalena Marszalek von der Universität Potsdam ging anhand der Bücher von zwei polnischen Autoren auf die Schoah ein. In Zofia Nałkowskas „Medaliony“ („Medaillons“) aus dem Jahre 1946 wird im Gegensatz zu Elias Venezis der Völkermord aus dem Blickwinkel eines Außenstehenden geschildert und das Erlebte ohne den Gefühlen Platz zu lassen trocken geschildert, als wollte man nur dokumentieren. Magdalena Marszalek wies darauf hin, dass die Autorin diese Herangehensweise deswegen gewählt habe, um den Leser stärker zu beeindrucken. Sie wies anhand der Ausschnitte, die sie aus dem Buch vortrug, darauf hin, dass im Buch zwei Typen von Menschen dargestellt werden. Zum einen die Opfer (das sind die Juden, die in ein KZ gebracht werden) und die anderen, nämlich jene, die die Opfer von außen betrachten und ihnen nicht helfen (die örtliche polnische Bevölkerung). Der dominierende spröde Stil könne als Kritik an jenen Polen interpretiert werden, die bei der Schoah geschwiegen haben, so die Referentin. Tadeusz Borowskis Erzählband „Kamienny świat“ („Die steinerne Welt“) sei nihilistisch. Und wenn auch der Ich-Erzähler denselben Namen trage wie der Autor, so sei das Buch nicht autobiografisch (Borowski war der Reihe nach in den KZs Auschwitz-Birkenau, Natzweiler-Dautmergen (bei Balingen) und Dachau). 1948, ganze drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen, sind die Protagonisten zweigeteilt: jene, die Juden sind, und jene, die keine Juden sind. Auch hier wird mit dem Blick von draußen das Erlebte bewertet und gezeigt, wie der Mensch sich von seinen Werten entfernt. Übrigens: Prof. Marszalek wies darauf hin, dass im Zofia Nałkowskas 1927 erschienenen Erzählband „Choucas“ viele Überlebende des Völkermords an den Armeniern zu Wort kommen.

Der Völkermord an den Armeniern des Jahres 1915 war das Thema von Dr. Bernhard Malkmus’ Ausführungen. Er lehrt an der Ohio State University. Bei der vergleichenden Betrachtung von Franz Werfels „Die 40 Tage des Musa Dagh“ und Edgar Hilsenraths „Das Märchen vom letzten Gedanken“ ging es vor allem um die Erzähltechnik. Während bei Werfel ein allwissender Autor die historischen und politischen Aspekte des Völkermords an den Armeniern im Blickfeld hat, geht es nach Ansicht des Referenten beim „Märchen vom letzten Gedanken“ vorrangig um das reflexive Moment. In diesem zweiten Buch, in das die orientalische Erzähltechnik in Gestalt von Meddah Eingang gefunden hat, sehen wir auch Dialoge, die die Erzähltechnik bereichern. Inhaltlich werden in beiden Büchern die kollektiven Ängste und Sorgen der Armenier, die 1915 Opfer eines Völkermordes wurden, und ihre übermenschlichen Bemühungen, am Leben zu bleiben, vor Augen geführt.

Die Lesungen

Der Literaturwissenschaftler, Lyriker und Autor Peter Balakian aus New York und Fethiye Çetin, die Rechtsanwältin im Mordfall Hrant Dink und Autorin, waren eingeladen worden, um aus ihren Büchern vorzutragen und die Fragen der Anwesenden zu beantworten. Beide sind Vertreter der dritten Generation nach dem Völkermord an den Armeniern von 1915. Trotz ihren unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Völkermord, waren die Parallelen bemerkenswert. In ihren Büchern tauchen die jeweiligen Großmütter auf und sie, die Zeugen von Mord und Vertreibung wurden, hatten die Gelegenheit, dieses Wissen endlich der späteren Generation weiterzugeben. Peter Balakian hatte in seinem Buch „Die Hunde vom Ararat“ (englischer Originaltitel „Black Dog of Fate“) aus der Perspektive eines in der US-amerikanischen Diaspora lebenden Jungen und jungen Erwachsenen all die Dinge aufgeschrieben, die er bis dahin nicht wusste, darunter auch vieles, was der türkische Staat bis heute leugnet. Seine Großmutter war eine seiner Gewährspersonen. Auch wenn es sich um ein Erinnerungsbuch handelt, benutzt Balakian als Erzähltechnik Romanmotive und bevorzugt eine lyrische Sprache.

Fethiye Çetin, Autorin von „Meine Großmutter“ („Anneannem“), hatte zu Beginn ihrer Ausführungen festgestellt, dass sie eigentlich keine Schriftstellerin sei, aber um das, was sie von ihrer Großmutter erfahren habe, anderen mitzuteilen, gezwungen gewesen sei, dieses Buch zu schreiben. Bekanntlich entfaltete es in der Türkei eine sehr große Wirkung. Nicht nur jene Armenier, die gezwungen waren den Islam anzunehmen, sondern auch all jene, die ihrer Herkunft nicht sicher waren, begaben sich nach der Lektüre des Buches auf Spurensuche. Die Autorin begegnet uns als Ich-Erzählerin und schildert in knapp gehaltenen Passagen Erinnerungen. Literarische Aspekte stehen nicht im Vordergrund, vielmehr geht es darum, den Leser zu informieren. Fethiye Çetin begegnet uns unmittelbar als Autorin. Dieser Aspekt sorgt dafür, dass das Buch in hohem Maße realistisch und überzeugend wirkt. Ein weiterer Aspekt sorgt für die Steigerung der Erzählqualität: Die Verfasserin schildert – während sie schreibt – ihre inneren Widersprüche und stellt sie unverstellt dar.

Auch wenn die beiden Autoren keine gemeinsame Sprache hatten, war die Kommunikation zwischen ihnen beiden ein Beleg dafür, dass von gemeinsamen Schmerzen eine einigende Kraft ausgeht. Peter Balakian lebt in der Diaspora mit seiner armenischen Identität, während Fethiye Çetin ein Enkelkind ist, das zwar in der angestammten Heimat lebt, jedoch lange Zeit nichts von seinen armenischen Wurzeln wusste. Erst als erwachsener Mensch erfuhr sie davon und das von ihrer Großmutter. In dieser Hinsicht kann man bei beiden Lesungen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede feststellen.

Workshops

In drei Workshops wurde intensiv über die Wirkung des Völkermords auf literarische Texte diskutiert. Einer davon wurde von Raffi Kantian geleitet und trug den Titel „Wie reden? Wie schweigen? – Armenische Autoren zu 1915“. Dabei wurden Texte von Vahan Tekeyan, Zahrad, Howhannes Grigoryan, Artem Harutyunyan, Schahan Schahnur und Raffi Kebabdjian vorgetragen. Die Teilnehmer gingen in ihren Diskussionsbeiträgen auf die historischen Bezüge in den Texten und die Sichtweise der Autoren ein.

Doğan Akhanlı, der mit seinem Roman „Die Richter des Jüngsten Gerichts“ den Völkermord an den Armeniern thematisierte, leitete den zweiten Workshop. Dabei ging es darum, wie man bei literarischen Texten sich sachlich dem Problem nähern kann. Der Autor, der in den vergangenen Monaten mit seinem Theaterstück „Annes Schweigen“ auffiel, geht in seinen Gedanken auf Identität, Überleben, schweigen um zu überleben ein. Im dritten Workshop thematisierte man die Massaker der Jahre 1937/38 an den alevitischen Kurden von Dersim. Wilfried Eggers, der sich detailliert mit diesem Thema befasst hat, leitete diesen Workshop und informierte die Teilnehmer über seine Rechercheergebnisse.

Podiumsdiskussion

Am letzten Tag der Veranstaltung fand eine von Raffi Kantian moderierte Podiumsdiskussion statt, an der Fethiye Çetin, Peter Balakian und Doğan Akhanlı teilnahmen. Zu Beginn stellte Raffi Kantian kurz Serdar Cans „Die Märchen mit meiner Großmutter“ aus dem Jahre 1991 vor – vermutlich das erste türkische Buch, das 1915 wenn auch in leicht verklausulierter Form, aber überaus deutlich schildert – vor und fragte die Podiumsteilnehmer, warum sie über den Völkermord an den Armeniern schreiben wollten. Auch wenn die Autoren bedingt durch ihr persönliches Schicksal unterschiedliche Antworten gaben, einigten sie sich alle in dem einen Punkt, dass sie als Mensch die Notwendigkeit spürten, darüber zu schreiben. Ihrer Ansicht nach gab es einerseits jene, die aus Angst schwiegen, andererseits jedoch eine staatliche, weltweit betriebene Leugnungspolitik. Es war ein bedeutsames Zeichen, dass jene, die Zeuge des Völkermords wurden, den Völkermord auf ihrer Haut spürten, diese Schmerzen noch zu Lebzeiten mit anderen teilten. Diese historische Wahrheit musste – wenn auch über die Literatur – den Menschen mitgeteilt werden. Folglich war für alle drei Autoren der Völkermord nicht nur Thema für ein Buch, sondern Gegenstand für Studien und Arbeiten. So lehrt Peter Balakian an einer Universität der USA u.a. „Genocide Studies“, Fethiye Çetin unterstützt als Rechtsanwältin unterschiedliche Gruppierungen in der Türkei. Und schließlich Doğan Akhanlı, der letztendlich wegen seines Engagements in Sachen 1915 nicht mehr in die Türkei fahren kann und gegen ihn immer noch ein kafkaesker Prozess geführt wird.

Eine junge Teilnehmerin fragte: „Ist es nicht möglich, all das Erlebte zu vergessen? Warum akzeptieren wir nicht eine historische Begebenheit so, wie sie sich abgespielt hat, und lassen sie dort, eben in der Geschichte?“. Peter Balakian antwortete darauf so: „Hitler hat vor dem Überfall auf Polen gesagt: ‚Wer redet denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?‘. Damit Massaker dieser Art sich nicht wiederholen, müssen wir darüber reden, aus ihnen Lehren ziehen. Das ist wichtig. Sonst werden wir so etwas wieder erleben.“ Fethiye Çetin vertrat die Ansicht, dass zur Befreiung von den Traumata man darüber sprechen müsse.

Film – Musik – Lyrik

Zusätzlich zu den Referaten, den Lesungen und den Workshops gab es am Samstagabend ein Konzert und eine Lesung. Nelly Schmalenberg, Klavier, und Pavlos Tsavdaridis, pontische Lyra, boten armenische und griechische Musik dar. Peter Balakian trug eines seiner Gedichte vor. Susanne Böhringer und Bea Ehlers Kerbekian bereicherten den Abend mit Rezitationen armenischer Gedichte.

Ein Dokumentarfilm, der die Restaurierung der Brunnen im Heimatdorf von Fethiye Çetins Großmutter Heranuş zeigte, rundete den Abend ab.

Aus dem Türkischen von Raffi Kantian

Zur Person: Songül Kaya-Karadağ, Jg. 1972, wurde in Gaziantep geboren. Studierte türkische Sprache und Literatur in Malatya. Wegen angeblicher politischer Betätigung wurde sie schon als Schülerin wiederholt verfolgt und zuletzt zu einer Haftstrafe verurteilt, der sie sich durch Flucht entzog. Seit 1996 in Deutschland, wo ihrem Asylantrag stattgegeben wurde. Sie schreibt für die Zeitung Evrensel, seit einiger Zeit auch für die ADK. 2009 absolvierte sie ihr Studium der Geschichte und Turkistik an der Universität Duisburg-Essen. Seit 2010 Koordinatorin an der AWO Köln und zusätzlich wissenschaftliche Mitarbeiterin am Projekt „Mülheim 2020“.

 

Wichtig: Dieser Text ist ein Vorabdruck aus ADK, Zeitschrift der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, Nr. 161, Jahrgang 2013 / Heft 4. Auch bei ausschnittsweiser Verwendung Quellenangabe und Zusendung eines Belegexemplars an den Verantwortlichen Redakteur, Dr. R. Kantian, Ferdinand-Wallbrecht-Str. 64, 30163 Hannover, oder an info@deutscharmenischegesellschaft.de erforderlich.

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