Vor (fast) 100 Jahren Völkermord an den Armeniern: Widersprüchliche Signale aus der Türkei

Nunmehr wurde am 24. April 2012 in der Türkei zum dritten Mal öffentlich der ermordeten Armenier von 1915 gedacht. Vorreiter waren auch dieses Mal der Ausschuss gegen Rassismus und Diskriminierung der Istanbuler Gliederung des Menschenrechtsvereins IHD und die Nichtregierungsorganisation DurDe (s. unsere Berichte zu 2010 und 2011 ).

Trotz der Gleichheit der Akteure gab es Unterschiede. Hatte der IHD in seiner letztjährigen Erklärung die Faktizität des Völkermords von 1915 anhand der Genozidresolution der UNO aus 1948 in den Vordergrund gerückt, so sprach er dieses Mal andere Aspekte an. Dazu wählte der IHD eine originelle Form. In öffentlich verlesenen Briefen an den Katholikos Aller Armenier und den Katholikos des Hohen Hauses von Kilikien positionierte er sich auch als Sachwalter bzw. Unterstützer der Armenier.

„We are writing this letter to the Mother See of Holy Etchmiadzin, which represents all the Armenians in the world, in order to say that we bow in shame and in respect before the memory of the Ottoman Armenians who were massacred and dispossessed of all their riches, of all their richness of every kind, and effectively, even of the vestiges of their past. We are addressing our letter to you to declare that we remain the defenders of the usurped rights of the children and the grandchildren of the victims who survived massacre and were dispersed to all corners of the earth” lesen wir im Schreiben an S. H.Karekin II., Katholikos Aller Armenier.

Und an S. H. Aram I., Katholikos des Hohen Hauses von Kilikien, gewandt heißt es u. a.: „In your letter, you declared that the Armenian people will never abdicate their demands on Turkey for justice regarding the Armenian Genocide, and for the restoration of human rights. You wrote, ‘Dear Prime Minister, your declarations regarding justice and human rights will only be documented when you recognize the Armenian Genocide.’ We are writing this letter to address you and thus all the Armenians in the world, to state that your demands voice the requirements of the most basic human rights, and that they are also our demands.”

DurDe veranstaltete auch dieses Jahr auf dem Taksimplatz ein Sit-in. Dass deutlich mehr Menschen daran teilnahmen als zuletzt, war nicht das Bemerkenswerte daran.

Bemerkenswert war hingegen, dass erstmalig Armenier sich mit einer eigenen öffentlichen Erklärung und einem eigenen Logo am Taksim-Platz vertreten waren. Zwar haben Armenier auch in den Jahren zuvor den 24. April begangen, aber das geschah quasi im „privaten Rahmen“. Sie besuchten das Grab von Hrant Dink und das Mahnmal für die Opfer der Hamidischen Massaker. Sie nahmen allerdings auch an den Veranstaltungen von IHD und DurDe bzw. der Initiativgruppe „Wir bitten um Verzeihung“ teil, machten aber auf sich nicht als Gruppe aufmerksam. Nun also erstmalig ein öffentlicher Auftritt.

Neu war auch die Haltung der islamistischen Menschenrechtsgruppe MAZLUMDER, die mit einer engagierten, sehr offen gehaltenen Erklärung Position bezog.

Unbedingt erwähnenswert ist auch die Aktion der sog. „Samstagmütter“, die wenige Tage vor dem 24. April nicht nur auf das Schicksal ihrer spurlos verschwundenen Angehörigen, sondern auch die der ermordeten Armenier aufmerksam machten.

Eine Reihe von regierungskritischen Zeitungsartikel begleiteten die Demonstrationen, wobei festzuhalten ist, dass die türkischen Medien in ihrer großen Mehrheit die Gedenkfeier nicht zur Kenntnis genommen haben. Löbliche Ausnahmen bildeten u. a. die Internetportale Bianet, Sesonline sowie die Zeitungen Agos und Radikal.

Bedenkt man, dass in gerade eben drei Jahren der 100. Gedenktag des Völkermords an den Armeniern weltweit begangen wird, kommen den Reaktionen der staatsnahmen bzw. staatlichen Kreise naturgemäß eine besondere Bedeutung zu. Eine Auswahl:

So brachte die regierungsnahe Zaman in ihrer internationalen Ausgabe Today’s Zaman am 23. April „Late President Turgut Özal worked to solve ‘Armenian genocide’ dispute“. Darin kommen zwei ehemalige türkische Minister, die unter Özal gedient haben, zu Wort. Einer von ihnen soll gesagt haben: “In 1984 he ordered his advisors to work on possible scenarios about the economic and political price Turkey would have to pay if Turkey compromises with the Armenian diaspora, an early Turkish acceptance of the term ‘genocide.’ Another scenario was also prepared. This plan sought to gauge the political cost of a Turkish acceptance of genocide within 20 to 30 years if Turkey is forced to accept it one day. His aim was to solve the problem before it got too late and through few concessions after reaching a deal with the Armenians.”

Ein anderer wird so zitiert: “However, Özal came up with the idea that Turkey could reconcile and make peace with the Armenians, who had earned the title ‘millet-i sadıka‘ [loyal nation] during the Ottoman era. He wanted to open the door for a return of Armenians to Turkey. No one has made a move since. Had he not died, he might have solved this issue.”

In der Türkei ist über Özals Haltung zum Völkermord an den Armeniern auch in der Vergangenheit ab und an berichtet worden. Warum das ausgerechnet am 24. April 2012 nunmehr der internationalen Öffentlichkeit vorgetragen wurde, ist eine Frage wert. Soll das eine Kritik an den heutigen Machthabern der Türkei sein oder ein Wink, dass so etwas auch heute denkbar und machbar ist oder gar gemacht wird, wegen des zu erwartenden Widerstands aber nicht laut gesagt wird?

Eine weitere Stimme: Mensur Akgün ist Politologe, der die türkische Staatsspitze bei Auslandsbesuchen begleitet und berät. Staatsnähe kann ihm attestiert werden. Er schreibt: „Mit den alten Reflexen, mit der politischen Entdeckung der alten Dokumente können wir das Genozid-Problem nicht bekämpfen (…) wir müssen der Welt zeigen, dass die Türkei sich gewandelt, demokratischer geworden ist, sich mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt hat (…) Wenn die Türkei bei der Tragödie von 1915 auf der Stelle tritt, die erfolglosen Rezepte der Vergangenheit wieder anwendet, dann schickt sich das nicht für die Türkei.“

Schließlich eine dritte Stimme. Dieses Mal geht es um den Abgeordneten İsmet Uçma. Er gehört der regierenden AKP an und ist sogar einer ihrer Gründungsmitglieder. Er entschuldigte sich „als Person“ bei den Armeniern. Was damals geschehen sei, sei zwar kein Völkermord, aber die Deportation einer Etnie („soy sürgün“). Und: „Wenn Menschen deportiert werden, muss das so geschehen, dass keinem die Nase blutet. War das bei der Deportation der Armenier so? Nein“, „Ich kann das armenische Volk nicht vom türkischen Volk trennen (…) Wir müssen offen für Kritik sein. Damals war man parteiisch, hat sich rassistisch verhalten. Darüber muss debattiert werden.“ Das hat es in dieser Form aus dem Mund eines aktiven Politikers der regierenden AKP nicht gegeben.

Die offiziellen Äußerungen klingen freilich ganz anders. Während des Weltwirtschaftsgipfels im Schweizer Davos Ende Januar 2012 sagte Egemen Bağış – er vertritt die Türkei bei den Beitrittsverhandlungen mit der EU – öffentlich, es habe nie einen Völkermord an Armeniern gegeben. Die Leugnung von Völkermorden steht in der Schweiz seit 2003 unter Strafe und niemand hat je unterstellt, in der demokratischen Schweiz werde die Meinungsfreiheit unterdrückt. Bağış gab sich unnachgiebig: „Der sehr geehrte Staatsanwalt in Zürich sollte nicht seine Zeit verschwenden mit solchen Ermittlungen. Ich habe damals in der Schweiz gesagt, dass die Ereignisse von 1915 nicht als Völkermord bezeichnet werden können. Dazu stehe ich. Ich wiederhole es nicht nur heute, an dieser Stelle, sondern ich bin auch bereit, es jederzeit wieder und überall zu sagen, wenn man mich fragt. Daran soll niemand zweifeln.‘‘

Offenbar war das nicht nur seine Privatinitiative, denn Minister Bağış stellte fest: „Ich bin so entschlossen, weil ich weiß, dass mein Ministerpräsident voll und ganz hinter mir steht“ (Radikal, 16.2.2012).

Im April 2012 machte Minister Bağış wieder auf sich aufmerksam, dieses Mal in Malta. Er bediente sich der klassischen Argumentation der türkischen Negationisten, nämlich der sog. Häftlinge von Malta. Diese türkischen Honoratioren waren 1919 von den Engländern wegen ihrer Beteiligung am Völkermord an den Armeniern nach Malta deportiert worden. Nach einiger Zeit wurden sie freigelassen. Daraus folgern türkische Negationisten bis heute deren angebliche Unschuld, des Weiteren die „Haltlosigkeit der armenischen Behauptungen“. Dass die Dinge damals ganz anders lagen, haben Fachleute längst genau erörtert. Für Minister Bağış tat das Keith Micallef in Independent ein weiteres Mal.

Ein anderer türkischer Politiker, Außenminister Davutoğlu, war der Ansicht, dass dem 24. April viel zu viel Bedeutung beigemessen werde (Bianet, 24.4.2012).

Derweil laufen nach einem Bericht von Hürriyet Daily News vom 16. April die Vorbereitungen für 2015 auf Hochtouren. So dränge die Türkei „ihre nach Millionen zu zählende Diaspora sich zu organisieren, um die armenischen Behauptungen zu entkräften”. Seit 2010 existiert eine „Overseas Turks Agency“, diese wird vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Bekir Bozdağ geleitet. Allianzen mit Gleichgesinnten seien angestrebt, besonders mit Aserbaidschan. Diese Kooperation gibt es bereits, der rassistische „Gedenktag für Chodschali“ vom Februar 2012 in Istanbul war hierfür „ein besonders gelungenes Beispiel“.

Parallel dazu ist zu hören, dass das Türkische Generalkonsulat in Los Angeles „moderate Armenier“ als Gesprächspartner sucht. Das dürfte die Umsetzung von Ankaras Aktionsplan gegen die armenische Diaspora sein.

Zu einem Skandal geriet der Auftritt von Prof. Kemal Çiçek – er ist in der staatlich finanzierten Türk Tarih Kurumu (Türkische Gesellschaft für Geschichte) für die „armenische Sektion“ zuständig – am 25. April 2012 in der Fernsehsendung „Tarafsız Bölge“ („Neutrale Zone“) zum 24. April.

Es war „normal“, dass Prof. Çiçek alle Genozidvorwürfe routiniert abbügelte – dafür wird er bezahlt -, aber zwei seiner Sätze waren doch bemerkenswert. Als Garo Paylan, der Armenier in der Runde, feststellte, dass es in Anatolien keine Armenier mehr gebe, antwortete Çiçek, es gebe doch Armenier in Kalifornien. Und: Wenn Garo Paylan (weiterhin) so sprechen würde, würde das zu einer anti-armenischen Gegenreaktion in der Türkei führen und die davon Betroffenen würden dann außer Landes gehen müssen. Menschen wie Paylan würden der Grund hierfür sein.

Diese Tage schaltete Rafi Manoukian, ein Armenier aus den USA, in der International Herald Tribune eine Anzeige. Darin ein Zitat aus Economist vom 11. März 2010: “One day a Turkish leader will be statesman enough to see that national dignity is better served by acknowledging the sins committed on Anatolian soil than by suppressing debate and punishing truth-tellers”, daneben ein Foto von Präsident Gül mit dem Zusatz: “Perhaps President Gül of Turkey will be that leader”.

Mit dem sehr dehnbaren Zeitbegriff „eines Tages“ meint Rafi Manoukian vermutlich den 24. April 2015. Die konkreten Handlungen der verantwortlichen türkischen Politiker lassen allerdings eher wenig Raum für solches Wunschdenken, dafür umso mehr für sein Gegenteil.

Was ist dann von den Äußerungen des AKP-Abgeordneten İsmet Uçma und der anderen zu halten? Private Bemerkungen ohne jede politische Bedeutung oder Versuchsballons interessierter Kreise? Das ist fast eine Glaubensfrage.

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