Gut geschützte Hintermänner im Hrant-Dink-Prozess

Am 7. Februar 2011 wurde an der 14. Strafkammer Istanbuler Stadtteil Beşiktaş der Mordfall Hrant Dink verhandelt. Man blickte schon mit einer gewissen Erwartung auf diesen Tag, weil der Vorsitzende Richter, Erkan Canak, seines Amtes enthoben worden war (Zaman, 15. Dezember 2010).  Vorausgegangen waren Ermittlungen der staatlichen Behörden. Diese hatten herausbekommen, dass Richter Canak u. a. Kontakt zum ehemaligen Justizminister Seyfi Oktay von der Republikanischen Partei CHP hatte und es dabei darum ging, den Dink-Prozess zu sabotieren. Auch haben diese Stellen herausbekommen, dass der genannte Richter die Angeklagten in einem Rauschgiftprozess gegen Schmiergeld freigelassen haben soll. Als weitere Gegenleistung sollen ihm darüber hinaus Prostituierten zugeführt worden sein. In der Zwischenzeit hat Richter Canak seine Pensionierung beantragt.

Das Gericht hatte am 25. Oktober 2010 entschieden, dass das EGMR-Urteil wegen der Einspruchsfrist der Türkischen Republik nicht zu berücksichtigen sei, auch wenn sie nach dem Urteil bekanntgegeben hatte, auf ihr Einspruchsrecht verzichten zu wollen. Diese Frist lief jedoch am 14. Dezember 2010, drei Monate nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR), ab, sodass am 7. Februar 2011 diese Begründung keine Geltung hatte.

Doch schon vor diesem Termin hatten die Rechtsanwältin Fethiye Çetin sowie die Familie Dink mit Schreiben auf sich aufmerksam gemacht. Fethiye Çetin legte Anfang Januar 2011 ihren detaillierten Bericht „Stand des Hrant-Dink-Prozesses nach vier Jahren“ vor, Ende Januar wandte sich die Familie Dink mit einem Schreiben an Außenminister Ahmet Davutoğlu, Innenminister Beşir Atalay und Justizminister Sadullah Ergin.

Darin geht die Familie zunächst auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 14. September 2010 und die daraus erwachsenen Verpflichtungen für den türkischen Staat ein, um anschließend Forderungen zu stellen, die hier auszugsweise vorgestellt werden:

•             Es muss ermittelt werden, weswegen die Verantwortlichen, obwohl sie von der bevorstehenden Ermordung Hrant Dinks Kenntnis hatten, nichts dagegen unternommen haben, und somit ihren gesetzlichen Pflichten nicht nachgekommen sind. Anschließend sollten sie bestraft werden. Auch sollten die Staatsanwälte untersuchen, welche Beziehung diese Verantwortlichen zu den Angeklagten haben und in welcher Form sie diesen behilflich waren.

•             Gegen jene, die nach dem Mord Beweismittel vernichtet, unterschlagen und manipuliert, den Mörder wie einen Helden behandelt haben, müssen zielführende Ermittlungen eingeleitet werden. Auch muss aufgeklärt werden, welche Beziehungen diese Verantwortlichen zu den Angeklagten haben und in welcher Form der Organisation [hinter den Angeklagten] geholfen haben.

Alle Ermittlungen gemäß Gesetz Nummer 4483 oder der Staatsanwaltschaft vom Trabzon müssen erneut durchgeführt werden. Jedoch hat das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gezeigt, dass das genannte Gesetz hierfür nicht einen effektiven Weg darstellt. Folglich sollten Staatsanwälte, die direkt mit dem Dink-Fall befasst sind, diese Ermittlung durchführen.

•             Es muss durch umfassende Ermittlungen das Motiv für den Mord festgestellt werden. Ob der Mord aus rassistischen Motiven verübt worden ist, ob ethnische Vorurteile dabei eine Rolle gespielt haben, müssen ermittelt werden.

•             Das Gesetz Nummer 4483 muss novelliert werden, denn das Urteil des EGMR hat gezeigt, dass dieses keinen effektiven Weg für Ermittlungen ist. Die Novellierung sollte die Unabhängigkeit der ermittelnden und der urteilenden Instanzen garantieren, die Beteiligung des Opfers oder des Klägers vorsehen.

•             Die Hindernisse bei der Meinungs- und Pressefreiheit müssen beseitigt werden. Auch muss die Meinungsfreiheit vor Angriffen durch Individuen geschützt werden.

In den beiden Schriftstücken (Nr. 1 und Nr. 2) die die Dink-Familie über ihre Rechtsanwälte am 7. Februar 2011 dem Gericht vorgelegt hat, wurden ergänzende Forderungen gestellt.

Ende Januar hielt sich der türkische Präsident Abdullah Gül in Straßburg auf, wo er vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) sprach. Bei einem anschließenden Treffen mit türkischen Journalisten deutete der Präsident auf Anfrage an, dass er die staatliche Kontrollkommission (DDK) mit der Untersuchung des Dink-Falles beauftragen könne (Zaman und Radikal, 27.1.2011). Tatsächlich ist wenige Tage später ein solcher Auftrag an die DDK ergangen.

Rechtsanwältin Fethiye Çetin geht davon aus, dass man durch die Untersuchung der DDK der Widerstand jener Institutionen, die sich bislang den Aufforderungen des Gerichts widersetzt haben, brechen und den Ermittlungsbehörden Mut machen könnte (Agos, 4.2.2011). Im selben Artikel der Zeitung Agos wird ein Kolumnist der Zeitung Star mit der Bemerkung zitiert, die Tatsache, dass Präsident Gül die DDK aktiviert hat, sei ein wichtiger Schritt bei der Auseinandersetzung der Türkei mit ihrer jüngsten Geschichte. Ertuğrul Kürkçü von der Internetagentur Bianet, die immer vorbildlich über den Prozess berichtet hat, ist skeptischer. Seiner Ansicht nach stehe die Aktivierung der DDK eher im Kontext des sich verschärfenden Machtkampfes zwischen Präsident Gül und Ministerpräsident Erdoğan.

Der Prozess vom 7. Februar unter dem neuen Vorsitzenden Richter Rüstem Eryılmaz dauerte nur kurz und wurde auf den 28. März 2011 vertagt. Das deutet auf eine Beschleunigung des Verfahrens hin, denn zuvor lagen mehrere Monate zwischen den einzelnen Terminen.

Die Anwälte der Familie Dink haben zum einen die Berücksichtigung des EGMR-Urteils sowie die Ausweitung der Ermittlungen verlangt. Der Staatsanwalt Mustafa Çavuşoğlu teilte mit, dass gegen 28 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes ermittelt werde, darunter befänden sich der ehemalige Gouverneur von Istanbul Muammer Güler und der ebenfalls ehemalige Polizeipräsident Celalettin Cerrah. Der Letztgenannte ist gegenwärtig Gouverneur der Provinz Osmaniye.

Doch diese Ankündigung des Staatsanwalts wurde von Innenminister Beşir Atalay umgehend relativiert. Ihm liege kein entsprechender Antrag vor, vielmehr hätten die Rechtsanwälte der Familie bei der Staatsanwaltschaft so etwas verlangt. Man müsse nun abwarten, wie die Staatsanwaltschaft verfahren werde.

Der Jurist PD Dr. Osman Can, der lange Zeit als Gutachter beim Türkischen Verfassungsgericht tätig war, hat eine grundsätzliche Analyse des Prozesses vorgenommen. In seinem Artikel „Der Hrant-Dink-Mord: Die Pleite einer Strategie“ (Star, 27.10.2010)  stellt er fest: „Eine Verteidigungsstrategie, die den Vorgang als einen Strafprozess begreift und darauf aus ist, den ‚Täter‘ im Sinne des Strafgesetzes zu ermitteln, kann angesichts der Rechtstradition der Türkei nur eins erreichen: eine technische Lösung. Mir scheint, dass diese Strategie einen wesentlichen Anteil daran hat, dass der wichtigste politische Mord der türkischen Geschichte, der tiefe Wunden geschlagen hat, zu einem gewöhnlichen Justizfall gemacht worden ist.“ Can ist der Ansicht, dass der Dink-Mord im Kontext der 100jährigen Geschichte der politischen Morde in der Türkei betrachtet werden muss.

Am Prozess haben neben der Familie Dink und ihren Rechtsanwälten auch zahlreiche Beobachter teilgenommen. Darunter Hélène Flautre, die Ko-Präsidentin des Gemischten Parlamentarischen Komitees EU-Türkei, Kadriye Karcı vom Berliner Abgeordnetenhaus, Fraktion Die Linke, Vertreter der Rechtsanwaltskammern von Diyarbekir, Mersin, Istanbul sowie des Dachverbands der türkischen Rechtsanwaltskammern.

Bereits am 19. Januar 2011 hatten eine Vielzahl von Juristen von den Rechtsanwaltskammern Paris und Brüssel in Le Monde einen Aufruf publiziert. Einige von ihnen nahmen an der Verhandlung vom 7. Februar teil. Unter den Unterzeichnern befanden sich auch die Philosophen Bernard-Henri Levy, Alain Fienkelkraut sowie der Filmregisseur Robert Guediguian.

Der mutmaßliche Schütze Ogün Samast wird entsprechend dem Urteil vom 25. Oktober 2010 der Jugendstrafkammer im Istanbuler Stadtteil Sultanahmet am 28. Februar 2011 Rede und Antwort stehen (s. ADK 150, S. 22).

Siehe auch unsere anderen Beiträge zum Thema:

–  Mordfall Dink: Die Türkei vom EGMR verurteilt
Hrant Dink „ein weiteres Mal erschossen“

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Allgemein. Bookmarken: Permanent-Link. Kommentare sind geschlossen, aber Sie können ein Trackback hinterlassen: Trackback-URL.

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen