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Chodschali in Istanbul
Wenig Trauer, dafür viele Hasstiraden & Graue Wölfe, die nach Jerewan wollen
Istanbul war vollgepflastert mit den Plakaten „Schweig nicht zur armenischen Lüge“. Welche Armenier waren gemeint? Die in Berg-Karabach? In Armenien? In der weltweiten Diaspora? Auch die in Istanbul etwa? Immerhin leben dort geschätzte 50-70.000 Armenier sowie eine unbekannte Anzahl von Migranten aus Armenien. Und welche Lüge?
Zusätzlich zu den Plakaten wurden in den Zeitungen ganzseitige Anzeigen geschaltet. Ein gewisser Mesut Ülker war, nach der Meldung von Radikal vom 25.2.2012, Mitglied des vierköpfigen Organisationskomitees. Er gab sich arglos: „Wir haben keineswegs vor, uns an unseren armenischen Brüdern, den in der Türkei lebenden Minderheiten zu rächen. Wie sind nur sensibel für das Massaker von Chodschali (…) und das nur deswegen, damit es nur zukünftig nicht zu solchen Massakern kommt.“
Die zahllosen Plakate zu drucken und anzubringen, die Anzeigen in den Zeitungen zu schalten, ist eine sehr kostspielige Angelegenheit. Von Radikal gefragt, woher das Geld stammt, wiegelte Mesut Ülker ab. Nein, weder der sprichwörtliche „tiefe Staat“ noch irgendeine andere Organisation steckten dahinter.
Dass Mesut Ülker zum „Understatement“ neigt, fand man wenig später heraus. Nach den Angaben seiner Webseite (Radikal, 28.2.2012) ist er, Jahrgang 1962, Absolvent der Luftwaffenakademie. Er war danach in den strategischen Einheiten der türkischen Streitkräfte als Planer und Ausbilder tätig. Zuletzt war er Luftwaffenoberst. Er wird als Strategieexperte bezeichnet, geäußert hat er sich in den Medien auch zu außen- und innenpolitischen Fragen (Libyen, PKK). Mehr noch: Er war als Teil der Delegation von Präsident Abdullah Gül im Oktober 2010 in den USA.[1] Also ein ausgewiesener Fachmann, dem man keineswegs Staatsferne attestieren kann, plant und organisiert eine groß angelegte Demonstration mit.
Die Demonstration oder Wo bleiben „unsere Armenier“?
Am 26. Februar marschierten bis zu 50.000 Menschen zum Taksim-Platz. Sie skandierten Parolen und trugen unterschiedlichste Transparente. Auf einigen stand „Gerechtigkeit für Chodschali“ oder Vergleichbares. Dass man um die Toten trauert, ist verständlich. Doch warum wurden nur die Toten von Chodschali in den Vordergrund geschoben? Beim Krieg um Berg-Karabach hat es viele Opfer gegeben, angefangen mit denen, die bei den antiarmenischen Pogromen von Sumgait und Baku umgebracht wurden.
Der Text auf einigen Transparenten war noch deutlicher „Da ihr alle Armenier seid, müsst ihr für Chodschali Rechenschaft ablegen“. Und eine Variante: „Ihr seid Besatzer, ihr seid Mörder, ihr seid alle Armenier“. Oder „Der Mörder von Chodschali, der bestialische Armenier“. Sind alle Armenier Schuld an Chodschali?
Aber vielfach ging es gar nicht um Chodschali. Die Armenier sollten in ihrer Gesamtheit beleidigt („Ihr seid alle Armenier, ihr seid alle Bastarde“) oder unmissverständlich bedroht werden („Heute auf dem Taksim Platz, morgen in Jerewan. Wir könnten mit einem Mal dort auftauchen“, „Die türkische Armee, der Schrecken des Armeniers“).
Hrant Dink und seine Mörder waren auch ein Thema („Wir alle sind Ogün Samast“, „Die Grauen Wölfe sind da, wo sind die Hrants?“, „Wir haben keine Angst vor Hrants Bastarden“).
Auch der Innenminister İdris Naim Şahin hielt am Taksim-Platz eine Rede: „Heute vor 20 Jahren haben Bluttrinker, Mörder, Mitleidlose (…) in Chodschali das Blut von 613 Menschen getrunken (…) Das Blut, das in Aserbaidschan geflossen ist, ist unser Blut. Das Blut ist geflossen, aber die Rechnung ist noch nicht beglichen. Solange das türkische Volk existiert, wird die Rechnung aufgemacht und Rechenschaft verlangt werden. Für dieses Blut werden wir in Istanbul und in Baku kämpfen mit all denen zusammen, die auf dieser Welt an Recht und Gerechtigkeit glauben.“[2]
Der Minister hätte ein Wort der Mäßigung sagen, Kritik üben können an den Transparenten und den Slogans. Er hat es unterlassen, stattdessen hielt er eine Rede, in der das Wort „Blut“ reichlich oft vorkam. Schlimmer noch, er hat agitiert.
Es gab vor nicht allzu langer Zeit den „Brauch“, dass die türkische Staatsführung in bestimmten Fällen von „unseren Armeniern“ sprach. Das geschah immer dann, wenn die „Diaspora“ wieder einmal etwas getan hatte, was in den Augen der Staatsführung „antitürkisch“ war. „Unsere Armenier“ sollte beschwichtigend wirken, das waren die „guten Armenier“, gegen die – schon wegen des drohenden Imageschadens im Westen – nichts unternommen werden sollte.
Offenbar gibt es „unsere Armenier“ nicht mehr, es gibt nur „die Armenier“ und glaubt man den Transparenten, sind sie „alle Besatzer und Mörder“.
Ministerpräsident Erdoğan meinte, es habe vereinzelte marginale Transparente gegeben, diese könnten keinen Schatten auf „unser Gedenken des Massakers von Chodschali werfen“ (Radikal, 28.2.2012).
Chodschali als Vorwand?
Einige Belege sprechen dafür, dass Chodschali vermutlich nicht das einzige „Anliegen“ war.
So gehört der „Verein zur Bekämpfung der haltlosen armenischen Behauptungen“ (in der Türkischen Nationalversammlung gibt es einen Ausschuss gleichen Namens) zu den Organisatoren der Demonstration. Die „haltlose Behauptung“ ist der Völkermord an den Armeniern, die – weil „erlogen“, also eine „Lüge“ – haltlos ist. Schaut man sich das Video[3] dieses Vereins an, so sieht man neben etlichen Unflätigkeiten an die Adresse des armenischen Präsidenten Serge Sargsyan, den plakativen Satz „Den Völkermord des Jahrhunderts haben wir nicht vergessen und wir werden dafür sorgen, dass er nicht vergessen wird“. Mit „Völkermord des Jahrhunderts“ ist natürlich Chodschali gemeint.
In dieselbe Richtung weist auch das Plakat mit der Aufschrift „Wenn meine Vorfahren einen Völkermord begangen hätten, hätte es auf der Welt keinen einzigen Armenier gegeben“. Hinzu kamen antifranzösische „Reaktionen“ (die Demonstration fand zwei Tage vor der Sitzung des französischen Verfassungsrates statt). „Sarkozy, mach deinen Dreck weg“ skandierte die Menge und warf Toilettenpapier der Marke „Sarkozy“ – diese war im Januar nach der Entscheidung der Französischen Nationalversammlung auf den Markt gekommen – auf den Boden. Am Taksim-Platz hielten Demonstranten Schilder mit der Überschrift „Franzosen aufgepasst“ und extrem chauvinistischen Inhalts.
Zusammengefasst kann gesagt werden, dass mit der „armenischen Lüge“ zum einen der Völkermord von 1915 und zum anderen Chodschali gemeint war.
Reaktionen
Da ist zunächst die Erklärung der Istanbuler Gliederung des türkischen Menschenrechtsvereins IHD, genauer des Ausschusses gegen Rassismus und Diskriminierung, schon vor der Demonstration zu nennen. Mit der „armenischer Lüge“ seien die armenische Identität und alle Armenier gemeint. Das sei Rassismus, Volksverhetzung und der Versuch, eine Gruppe und ihre Mitglieder zur Zielscheibe zu erklären.[4]
Zum Ablauf selbst gibt es auch eine Reihe von kritischen Kommentaren. Pınar Öğünç zählte angewidert die diversen Losungen der Demonstranten auf und fragte sich: „Wer kann mich davon überzeugen, nachdem ich die Augen derer gesehen habe, die ‚Wir alle sind Ogün Samast [der Mörder von Hrant Dink]‘ skandieren, dass sie tatsächlich um die Opfer von Chodschali trauern?“[5]
Und Ahmet Altan, Chefredakteur von Taraf, schrieb: „Eine wahrhaft rassistische, faschistische Demonstration. Eine chauvinistische Aufwallung, die den Tod, den Mord, das [Dink-]Attentat zu legitimieren versucht.“ Und an die Adresse des Innenministers gewandt stellte er fest: „Die eigentliche Aufgabe des Innenministers ist es, nach den Mördern von Hrant Dink zu fahnden. Er aber steht inmitten einer Demonstration, bei der dieser Mord glorifiziert wird.“[6]
Murat Belge notierte: „Der Innenminister kann ohne Kenntnis des Ministerpräsidenten nicht handeln. Folglich kann es nicht falsch sein zu sagen, dass hinter dieser Demonstration eine nicht sonderlich verdeckte Unterstützung der Regierung gab (…) Wir reden von einem Massaker, bei dem über 600 Menschen gestorben sein sollen (es werden auch andere Zahlen genannt), wenn wir aber über 1915 sprechen, ist 600 eine sehr kleine Zahl.“ (Taraf, 28.2.2012)
Cengiz Çandar schilderte in „Keine Gedenkfeier für Chodschali, sondern ein nationalistischer Aufstand“ die ethnischen Säuberungen in Aserbaidschan und Berg-Karabach im größeren Zusammenhang, erwähnte neben Chodschali (in diesem Kontext spricht er von „internem Verrat“) ausdrücklich Sumgait und Baku.[7] Und Orhan Kemal Cengiz („Chodschali und die Bruderschaft der Rassisten“) merkt an: „Was uns reifen lassen wird ist nicht, die Massaker der Nationalisten in anderen Ländern zu verurteilen. Das eigentliche Problem ist, sich in unserem Land mit den Massakern, die unsere Gesellschaft, unser Volk, unser Staat begangen hat, auseinanderzusetzen.“[8]
Zu den wenigen positiven Punkten dieses sehr traurigen Tages gehörten die Gegendemonstration einer kleinen Gruppe, Mitglieder der „Plattform der Aserbaidschanische Sozialisten in der Türkei“, und wenige Tage später am 4. März von fast eintausend Demokraten. Ihr Motto: „Es lebe die Brüderschaft der Völker“.
Sehr viele Medien haben die Demonstration, einschließlich der Rede des Innenministers, regelrecht schöngeschrieben, so auch Hürriyet („Eine riesige Demonstration für Chodschali“).[9]
Im Nachgang gab es eine Strafanzeige vom genannten Ausschuss des IHD bei der Staatsanwaltschaft. Ayhan Sefer Üstün, Vorsitzender des Menschenrechteausschusses in der Türkischen Nationalversammlung und AKP-Mitglied, hat wegen der „rassistischen Slogans und Transparente“ den Staatsanwalt angerufen. Was in den beiden Fällen herauskommt, wird zu sehen sein. Das Innenministerium seinerseits brachte am 29.2.2012 eine Presserklärung.[10]
Keine einzige Partei habe sich an der Organisation beteiligt oder diese unterstützt. Das Verhalten einiger provokanter Gruppen, die durch „ihr Verhalten, ihre Transparente und Slogans, dem Zweck, dem Geist der Demonstration widersprachen“ könne „in keiner Weise toleriert werden“. Und die Rede des Innenministers? Diese sei von Journalisten aus dem Zusammenhang gerissen wiedergegeben worden. Gegen beide Gruppen werde man strafrechtlich vorgehen. Es ist zu vermuten, dass man bei den Journalisten erfolgreicher sein wird, schließlich verfügt man dort über die meisten Erfahrungen.
Anfang März stattete Außenminister Davutoğlu den geistlichen Führern der christlichen Gemeinschaften in der Türkei einen Besuch ab (ist die Pflege der Beziehungen zu den Minderheiten – allesamt Bürger der Türkei – Aufgabe des Außenministeriums?). Er habe das schon seit sehr langer Zeit vorgehabt, sagte der Minister, nun sei es so weit: Zufall kann man sagen oder einfach klassische Schadensbegrenzung nach der „riesigen Demonstration für Chodschali“, die mit ihrem Pogromcharakter nicht nur die Armenier in Angst und Schrecken versetzt hat.
Der Abgeordnete Üstün stellte fest, die Demonstranten hätten „die ganze Sache entwertet“. Treffender wäre zu sagen, sie haben ein handfestes PR-Desaster verursacht.
[2] http://www.firatnews.com/index.php?rupel=nuce&nuceID=58728 und http://www.bianet.org/bianet/print/136475-hocali-nefret-soylemiyle-anildi
[3] http://www.youtube.com/watch?v=dJlwOHwgFoA
[4] http://hyetert.blogspot.com/2012/02/ihd-basn-acklamas-hocal-katliam-bahane.html
[5] http://www.radikal.com.tr/Radikal.aspx?aType=HaberYazdir&ArticleID=1079991
[6] http://www.taraf.com.tr/ahmet-altan/makale-kotu-gidis.htm
[7] http://www.radikal.com.tr/Radikal.aspx?aType=HaberYazdir&ArticleID=1080115
[8] http://www.radikal.com.tr/Radikal.aspx?aType=HaberYazdir&ArticleID=1079990
[9] http://hurarsiv.hurriyet.com.tr/goster/printnews.aspx?DocID=20004588
[10] http://www.icisleri.gov.tr/default.icisleri_2.aspx?id=7328
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