Armenien-Türkei: Folgt der „Fußball-diplomatie“ die „Katastrophendiplomatie“?

Auf das gewaltige Erdbeben der Stärke 7,2 in der Region Van vom 23. Oktober 2011 reagierte Armenien umgehend. Präsident Sargsyan schickte ein Kondolenzschreiben an seinen türkischen Amtskollegen Gül und machte darauf aufmerksam, dass ein armenisches Rettungsteam bereit stünde, um bei den Such- und Rettungsaktionen mitzumachen.

Am folgenden Tag – der armenische Präsident weilte anlässlich eines Staatsbesuches in Moskau – telefonierten Sargsyan und Medwedew mit Präsident Gül, kondolierten und boten ihre Unterstützung an.

Doch der türkische Ministerpräsident Erdoğan bedankte sich zwar bei allen Staaten, die ihre Hilfe angeboten hatten, darunter neben Armenien unter anderem auch Israel und Griechenland, für ihre Bereitschaft, vertrat jedoch die Ansicht, die Türkei könne die Katastrophe alleine bewältigen. Allerdings waren bereits zum damaligen Zeitpunkt einige wenige Staaten – Aserbaidschan, Bulgarien, Iran – bereits im Lande tätig.

The Times aus London kommentierte das so: „Turkey today has refused aid not only from Greece, but also from Israel and Armenia; the latter with which it has a traumatic history and the former with which it has a traumatic present (…) The refusal of outside aid contains an implicit boast that Turkey is no longer the sort of country that requires it. But it is. After a disaster such as this, any country would be. Turkish pride must not be built on the blood and crushed bones of the dead who otherwise would have lived. Regional stability is built on friendship, and Turkey is surrounded by nations offering just that. It should accept.“

Doch rasch änderte die Türkei ihre Position. Nun war die Hilfe aller Staaten sehr willkommen. Die armenische Seite brachte die von der Türkei am 27. Oktober gewünschten Hilfsgüter rasch auf den Weg. Die Organisation oblag dem armenischen Ministry of Emergency Situations. Eine IL-76 brachte die Hilfsgüter (Zelte, Schlafsäcke usw.), insgesamt 40 Tonnen, nach Erzurum.

Armenien hat der Türkei auch beim gewaltigen Erdbeben vom August 1999 im Westen des Landes geholfen. Doch neben humanitären Überlegungen kam im Falle von Van auch ein anderer wichtiger Aspekt hinzu: Ostanatolien  – und somit auch Van – ist die historische Heimat der Armenier, zu der sie nach wie vor eine starke emotionale Bindung haben. Als jedoch die Nachrichtenagentur Reuters am 23.Oktober 2011 in ihrer Factbox u.a. schrieb „It (gemeint ist Van) prospered under the Armenian Bagratid dynasty in the 8th century … Many Armenian residents were deported and massacred during World War One“, regierten einige in der Türkei pikiert. In die gleiche Kerbe schlug  Giorgi Lomsadze in EurasiaNet.org am 24. Oktober: „After all, more than 100 years ago, it was the city of Van — now hit hard by the earthquake — that was the epicenter of the 1894-1896 massacre of ethnic Armenians, a disaster bitterly begrudged by Armenians to this day.“

Und Lomsadze schlug einen Bogen zur Gegenwart: „By no stretch of the imagination would aid cooperation fix the outstanding issues in Turkish-Armenian relations, but it might have had symbolic value.“

Tatsächlich stecken die offiziellen armenisch-türkischen Beziehungen in der Sackgasse. Die Protokolle von Zürich führten aus den bekannten Gründen nicht zum Durchbruch, worauf die internationale Staatengemeinschaft gehofft hatte.

Bei ihrem Istanbul-Besuch vom Juli 2011 soll die US-Außenministerin Clinton die türkische Führung gedrängt haben, den Stolperstein schlechthin, den Karabach-Konflikt, bei den bilateralen armenisch-türkischen Beziehungen draußen vor zu lassen. Der „Erfolg“ dürfte sich bei der bekannten türkischen Abhängigkeit von den diesbezüglichen Vorgaben Aserbaidschans in Grenzen gehalten haben.

Dennoch mag die armenische Führung den Annäherungsprozess nicht ganz abschreiben – aus außen- wie innenpolitischen Gründen.

Ob jedoch ihre demonstrative Empathie für die Opfer von Van jene „emotionale Komponente“ ist, die die „Katastrophendiplomatie“ als Nachfolgerin der so gerühmten „Fußballdiplomatie“ Präsident Sargsyans etablieren kann, darf bezweifelt werden. Die Türkei fühlt sich heute außenpolitisch stärker als noch in 2009 – und das trotz der sich massiv zuspitzenden innenpolitischen Konflikte („Kurdebellion“ sei hier als neuer Begriff eingeführt) -, sodass sie noch weniger Veranlassung sieht, „Konzessionen“ zu machen als vor zwei Jahren. Aber „Empathie“ ist eine Währung, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn die Realpolitik dies für opportun hält.

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