Doğan Akhanlı: Endlich freigesprochen!

Der gegen Doğan Akhanlı vom türkischen Staat angestrebte Prozess war von Anfang an dermaßen absurd, dass er eigentlich nicht hätte stattfinden dürfen. Wir berichteten auf dieser Webseite (Link1, Link2).

Noch am 16. Juni verlangte der Staatsanwalt für die Doğan Akhanlı zur Last gelegten Vergehen lebenslänglich und das trotz fehlender Beweise. Um das überhaupt zu begreifen, baten wir seinen Rechtsanwalt Ercan Kanar zu dieser Stellungnahme, die wir in ADK 153 abdruckten:

Um das Paradigma der Stellungnahme zu begreifen, muss man das „Rechtsverständnis“ betonen, wonach bei mit Sonderrechten ausgestatteten Strafkammern Anklageschriften und Stellungnahmen zustande kommen. Im Strafrecht sind nach jahrhundertelangen Kämpfen grundlegende garantierte Rechtsnormen für die Angeklagten entstanden. Die wichtigsten von diesen sind: „Unschuldsvermutung“, „im Zweifel für den Angeklagten“, „der Grundsatz ne bis in idem (lat. „nicht zweimal in derselben Sache“) usw.

Außerdem ist es eine zwingende Not-wendigkeit, dass alle Ermittlungen nicht nach rechtswidrigen Normen durchgeführt worden sind, d. h.: Von Anfang an müssen die Angeklagtenrechte gemäß der „Miranda Rule“ (im anglo-amerikanischen Rechtsraum wird damit die Regel bezeichnet, gemäß der jemand vor einem Verhör auf seine Rechte (Anwesenheit eines Anwalts, Möglichkeit zur Aussageverweigerung) hingewiesen werden muss; d. Übers.) anerkannt sein. In den mit Sonderrechten ausgestatteten Strafkammern wer-den in der Ermittlungsphase, bei der straf-rechtlichen Verfolgung in der Phase der Stellungnahme die oben erwähnten Grundregeln des Strafrechts außer Acht gelassen. Denn gemäß der Logik des Anti-Terror-Gesetzes sehen die mit Sonderrechten ausgestatteten Strafkammern dieses Gesetz gewissermaßen als ihr „Grundgesetz“ an. Aus Sicht jener Personen, die gegen das herrschende sozioökonomische System sind, bedeutet das, dass für sie die fundamentalen Prozessrechte nicht gelten. Nach dem von Günther Jakobs, emeritierter Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie, diskutierten „Feindsstrafrecht“ sind die Gegner des Status quo nicht einmal Personen, sie sind „Unpersonen“. Folglich stehen ihnen die Angeklagtenrechte nicht zu.

In den mit Sonderrechten ausgestatteten Strafkammern geht es nicht um die Wahrheitsfindung. Es geht um die Bestrafung jener, die man für Oppositionelle hält. Auf einen Punkt, der merkwürdig erscheinen mag, sollte an dieser Stelle hingewiesen werden: Die oppositionelle Haltung kann unterbrochen oder nicht mehr vorhanden sein, sie kann auch andere Formen angenommen haben: Aus Sicht der Bestrafung spielen diese Tatbestände keine Rolle. Wenn auch bei Straftaten, in die politische Ziele verfolgende „bewaffnete Banden“ involviert sind, in der Theorie der weitere Bestand dieser Banden ermittelt werden sollte, kann man Jahre später eine Strafe verhängen, auch wenn diese illegale Organisation seit Jahren nicht mehr existiert. Man tut so, als würde sie weiterhin existieren. In der Theorie müssen „bewaffnete Banden“, die politische Ziele verfolgen, sehr bedeutsam sein, sich landesweit betätigen und über die notwendigen Mittel verfügen. Wenn drei Personen sich zusammentun und eine Pistole des Kalibers 6.35 in der Hand halten, so reicht das bei mit Sonderrechten ausgestatteten Strafkammern aus, um sie für eine „bewaffnete Bande“ zu halten und zu bestrafen.

Nach dieser allgemeinen Einleitung ist es klar, dass die Stellungnahme zu Doğan Akhanlı gemäß dem oben dargelegten „Feindsstrafrecht“ vorgenommen worden ist. Die Stellungnahme nimmt die Fakten der 1990er Jahre zur Grundlage. Damals konnten Festgenommene 15 Tage in Polizeigewahrsam bleiben, während dieser Zeit hatten sie keinen Kontakt zu ihrem Rechtsanwalt, die Ermittlungen wurden vollkommen nach rechtswidrigen Methoden durchgeführt. Selbst diese rechtswidrig zustande gekommenen Ermittlungsergebnisse konnten keine ernsthafte Beziehung zwischen Doğan Akhanlı und der ihm zur Last gelegten Tat herstellen. Die Tatsache, dass die Aussagen der Opfer und der Zeugen während des Prozesses von ihren Aussagen in den 1990er Jahren abweichen – diese wurden damals von der Polizei beeinflusst – wird in der Stellungnahme so ausgelegt, dass die Opfer und die Zeugen Angst vor der Organisation hätten und folglich ihre früheren Aussagen aus den 1990er Jahren den Tatsachen entsprechen. Dabei steht die Stellungnahme im Widerspruch zu den materiellen Fakten. Im Jahre 2011 existiert jene Organisation nicht, die Opfer und Zeugen hätte einschüchtern können. Die heutige Stellungnahme nimmt die Polizeiprotokolle der 1990er Jahre zur Grundlage. Dabei waren diese ohne die Kontrolle des Staatsanwalts, in Abwesenheit des Rechtsvertreters des Angeklagten zustande gekommen. Selbst in den Polizeiprotokollen beschuldigt Ahmet Kösemehmetoglu, die maßgebliche Person bei der behaupteten Tat der Organisation, Doğan Akhanlı nicht im Kontext der Organisation. Darüber hinaus hat die in der Stellungnahme beschriebene Organisation eine andere Struktur als jene, derentwegen Doğan Akhanlı damals der Prozess gemacht und bestraft wurde. Die Opfer und die Zeugen haben beim Prozess aus freien Stücken gesagt, dass ihre Aussagen aus den 1990er Jahren nicht richtig sind. Die Logik der Stellungnahme entspricht der Polizeilogik der 1990er Jahre. Man hat den Eindruck, dass die gesetzlichen Rechte, die die Gesetzesänderung des Jahres 2005 mit sich brachte, dem Gericht nicht recht sind. Selbst die Tatsache, dass die Opfer und die Zeugen, darüber hinaus jene, denen in der gleichen Angelegenheit damals der Prozess gemacht wurde, während der Untersuchungshaft Doğan Akhanlıs im Sommer 2010 bei der Staatsanwaltschaft eine Aussage machen wollten, wird in der Stellungnahme zu Ungunsten von Doğan Akhanlı ausgelegt. Mit anderen Worten: Das Recht des Angeklagten, in jeder Phase Beweise zu seinen Gunsten vorlegen zu dürfen, wird nach der Logik der Stellungnahme verletzt.

Kurzum: Die Stellungnahme ist ein typisches Beispiel für die Logik „der Staat ist der Nutznießer des Verdachts“. Es hat nichts mit dem modernen Strafprozessrecht zu tun. Man hat den Eindruck, als wollte man sich an Doğan Akhanlı politisch und ideologisch rächen.

Aus dem Türkischen von Raffi Kantian

Für den 12. Oktober 2011 war ein neuer Prozesstag angesetzt. Endlich setzte sich die Vernunft durch und Doğan Akhanlı wurde freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hatte sieben Tage Zeit, um vor das Oberste Berufungsgericht in Ankara zu ziehen. Das hat er bis zum 20. Oktober nicht getan. Somit ist der Freispruch rechtskräftig. Wir gratulieren.

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