Ragip Zarakolu verhaftet: Hintergründe & Reaktionen

Hintergründe

Im Rahmen der Operationen gegen die KCK (s.u.) wurden am 28. und 29. Oktober in der Türkei an die 50 Personen, darunter die Professorin Prof. Dr. Büşra Ersanlı und der Verleger Ragıp Zarakolu, zunächst in Polizeigewahrsam genommen, später verhaftet. Nach Darstellung der türkischen Tageszeitung Sabah vom 1. November 2011 sei als Grund für die Verhaftung die „Mitgliedschaft bei einer bewaffneten Terrorgruppe“, sprich PKK, genannt worden.

In einer vom Internetportal demokrathaber.net am 2. November verbreiteten Meldung – kürzere Fassungen haben auch andere Medien gebracht – soll Ragıp Zarakolu seinen Rechtsanwälten mitgeteilt haben: „Die Sicherheitskräfte, die meine Wohnung durchsuchten, haben dort nur das gefunden, was man im Hause eines Verlegers und Autors finden kann und haben diese als Beweisstücke sichergestellt.“

Bei diesen handelt es sich um bereits erschienene oder geplante Bücher des Belge-Verlages zu kurdischen und armenischen Themen.

Zarakolu weiter: „Meiner Ansicht nach muss die Regierung Antworten auf die Frage haben, warum ich im Vorfeld von geplanten Konferenzen in Deutschland [eine Konferenz fand am 5. November in Potsdam mit einem „Ersatzmann“ statt, sein geplanter Vortrag am 6. November in Berlin musste abgesagt werden, RK] und in den USA in Polizeigewahrsam genommen worden bin … Es ist ungewiss, wann ich von meinem Recht, mich zu verteidigen, Gebrauch machen kann. Es ist allgemein bekannt, dass so etwas Monate dauern kann. Mir hat man keine einzige Frage bezüglich der Organisation gestellt, deren Mitglied ich sein soll. Man hat mich lediglich zu den Büchern, die entweder bereits erschienen sind oder deren Erscheinen ich vorbereite, befragt, auch Fragen zu meinen Reden bei öffentlichen Veranstaltungen wurden gestellt.“

Seine Rechtsanwältin Özcan Kılıç informierte, dass man Zarakolu u.a. die Teilnahme bei der Eröffnung der Akademie der pro-kurdischen Partei BDP zur Last gelegt habe. Ihr Mandant sei nicht einmal Mitglied dieser Partei, er habe auch keinerlei Funktion in dieser Akademie. „Selbst wenn mein Mandant dort unterrichtet hätte, Teil ihrer Organisation gewesen wäre, kann das nicht als Beleg für die Mitgliedschaft in einer ‚illegalen Organisation‘ gewertet werden. Die Akademie ist gemäß der Satzung der BDP, einer legalen Partei, gegründet worden. Folglich kann die Teilnahme meines Mandanten an der Eröffnung der Akademie und die Rede, die er aus diesem Anlass dort gehalten hat, nicht als eine Straftat bewertet werden“, so die Rechtsanwältin.

Ragıp Zarakolu hat zusammen mit seiner 2002 verstorbenen Frau Ayşe Nur Zarakolu 1977 den Belge-Verlag gegründet. Sie haben viele Bücher zu den Tabu-Themen der Türkei herausgegeben, darunter auch zum Völkermord an den Armeniern und zur Kurdenfrage. Immer wieder mussten sie Haft- und Geldstrafen in Kauf nehmen. Diverse Paragrafen des türkischen Strafgesetzbuches wurden bemüht, um ihnen „das Handwerk zu legen“. So stachelte der Nachdruck von Prof. Dadrians Buch „Genocide as a Problem of National and International Law – The World War I Armenian Case and its Contemporary Legal Ramifications“, angeblich zum Rassenhass auf. Das behauptete jedenfalls der Staatsanwalt 1995. Auf ihr Verlagsgebäude wurde im selben Jahr ein Brandanschlag verübt.

Ragıp Zarakolu war häufig in Armenien, hielt dort Vorträge und wurde für sein Engagement ausgezeichnet. Dennoch pauschal zu schreiben, „in der Türkei werden [gegenwärtig] Intellektuelle inhaftiert, die sich öffentlich mit dem Völkermord an den Armeniern befassen“, so wie die FAZ heute (am 7. November) getan hat, ist nicht überzeugend. Zarakolu wäre unter den zuletzt Verhafteten der einzige, für den das gegolten hätte. Dass er generell als stets friedfertiger, aber entschlossener Verfechter der Meinungsfreiheit eine Vielzahl von Themen, so zuletzt die Verhaftung von Journalisten, bearbeitet hat, war vielen sicherlich ein Dorn im Auge.

Die „armenische Frage“ ist ein wichtiges Problem für die Türkei. Vor allem ihre internationale Anerkennung wird vehement bekämpft. Auch ist die „reformierte“ Fassung von Artikel 301 des türkischen StGB nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 25. Oktober 2011 immer noch ein ernsthaftes Hindernis bei der wissenschaftlichen Erforschung dieses Themas.

Aktuell und virulent ist in der Türkei jedoch vor allem die kurdische Frage, ganz besonders wegen der Millionen von Kurden, die in der Türkei leben.

Zwar ist die Behauptung, Zarakolu sei „Mitglied einer bewaffneten Terrorgruppe“, blanker Unsinn, doch er gehört zu jenen Leuten, die die kurdische Sache mit ihren Publikationen und Auftritten unterstützen. Unvergessen ist seine Mitarbeit in pro-kurdischen Zeitungen. Genau dieser „Unterstützerkreis“ soll mit der Verhaftung der prominenten Vertreter eingeschüchtert und mundtot gemacht werden. Das gilt besonders jetzt, denn die sog. „kurdische Öffnung“ der türkischen Regierung ist vorerst gescheitert und die Gewalt eskaliert dramatisch, seit etlichen Monaten sprechen wieder die Waffen.

Ab 2009 hat die türkische Regierung den zivilen Arm der PKK, die bereits genannte KCK („Koma Civakên Kurdistan“, zu Deutsch „Union der Gemeinschaften Kurdistans“), im Blick. Diese hat die Umsetzung des von Abdullah Öcalan am 20. März 2005 deklarierten „Demokratischen Konföderalismus“ zum Ziel. In mehreren Wellen sind Tausende Menschen wegen angeblicher oder tatsächlicher Zugehörigkeit zur KCK verhaftet worden. Darunter befindet sich auch Ragıp Zarakolus Sohn Deniz, der in der Akademie der BDP unterrichtet haben soll. Um die „Logik“ dieser Aktionen „verständlich“ zu machen: Der türkische Innenminister Şahin unterstellt, die BDP werde von der KCK gesteuert. Da aber die KCK Teil der PKK ist, wird man schnell zum „PKK-Mitglied“, wenn man irgendwie mit der BDP etwas zu tun hatte oder hat.

Eben auf diesen „kurdischen Kontext“ weist Ragıp Zarakolu selbst hin. In seiner o.g. Erklärung schreibt er: „Dass man mich in Polizeigewahrsam genommen und mich der Mitgliedschaft in der illegalen Partei beschuldigt hat, ist eine Kampagne, die gegen die Intellektuellen und Demokraten gerichtet ist und diese einschüchtern soll. Vor allem aber geht es hier darum, die Kurden zu isolieren.“

Westliche Reaktionen

Besonders deutlich haben sich Organisationen positioniert. So stellte Human Rights Watch u.a. fest: “ ‚We are seeing the Turkish police casting the net ever wider in the crackdown on legal pro-Kurdish politics,‘ Sinclair-Webb said. ‚Unless there is clear evidence of people plotting violence or providing logistical support to armed groups, prosecutors and courts should throw these cases out.‘

Turkey’s Anti-Terrorism Law contains a vague and overbroad definition of terrorism … Furthermore, court interpretations of the law make its misuse more likely. The UN special rapporteur on the protection and promotion of human rights and fundamental freedoms while countering terrorism, Martin Scheinin, has criticized the definition and called for its reform, saying that such crimes should be confined to ‚acts of deadly or otherwise grave violence against persons or the taking of hostages.‘ “

Auf die Kritik der EU-Kommission zur „Überdehnung“ der Anti-Terrorgesetze wies auch die Internationale Vereinigung der Verleger IPA in ihrer Stellungnahme hin.

Der Internationale P.E.N. veröffentlichte mehrere Erklärungen zum Thema, verlangte die umgehende Freilassung von Vater und Sohn Zarakolu sowie Prof. Dr. Büşra Ersanlı, rief zur Solidaritätsaktionen auf.

Es laufen z.Z. mehrere solche Aktionen im Internet. Eine ebensolche Erklärung verabschiedeten auch die Teilnehmer der Potsdamer Konferenz am 5. November.

Hingegen hat die Verhaftung Zarakolus in den westlichen Medien zu keinen bemerkenswerten Resonanzen geführt, das gilt auch für Deutschland. Erwähnenswert sind allenfalls die taz , die FAZ (in Teilen ungenau) und die britische The Guardian . Das bisherige Schweigen von Spiegel und Spiegel-Online ist ungewöhnlich.

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