Schreiben an die SPD-Bundestagsfraktion zur Armenienfrage

Gernot Erler
Mitglied des Deutschen Bundestages
Stellvertretender Vorsitzender der
SPD-Bundestagsfraktion

An die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion

Berlin, 8. Mai 2001

Gruppenantrag Genozid an Armeniern anerkennen

 

  1. Es ist historisch unbestreitbar, dass es 1915-16 im damaligen Osmanischen Reich systematische Verfolgungen und Vertreibungen von Armeniern gegeben hat, die über eine Million Opfer forderten und die nach den geltenden menschenrechtlichen Kriterien den Tatbestand des Völkermordes erfüllen.
  2. Kein Volk in Europa ist sich dessen mehr bewußt als die Deutschen, war das Osmanische Reich damals doch ein Verbündeter des Kaiserreiches. Die Tatsache, dass der deutsche Botschafter offiziell über die Gräuel an den Armeniern nach Berlin berichtete und die Zeugenaussagen deutscher Offiziere, die in Ost-Anatolien bei der türkischen Armee als Berater eingesetzt waren, führten dazu, dass der Völkermord an den Armeniern bereits damals zu einem öffentlichen Thema wurde. Die Evangelische Kirche protestierte beim Kaiser und auch der Reichstag beschäftigte sich mit dieser Sache.
  3. Es ist leider eine Tatsache, dass eine kritische Aufarbeitung dieses Teils der türkischen Geschichte in der türkischen Gesellschaft bis heute nicht stattgefunden hat. Türkische Politiker verharmlosen daher die ganze Sache und leugnen den Völkermord. Türken, die selbstkritisch mit ihrer Geschichte diesen Völkermord zugeben, werden kriminalisiert. Wir halten die diesbezüglichen Prozesse für mit der europäischen Rechtsauffassung unvereinbar.
  4. Deutsche Politiker aller Parteien haben gegenüber der Türkei nie ein Hehl aus ihrer Bewertung der Ereignisse Anfang des 20. Jahrhunderts gemacht. Auch in der derzeitigen Diskussion, in der die Türkei sich vehement gegen verschiedene diesbezügliche Parlamentsbeschlüsse europäischer Länder wehrt, sind die zuständigen SPD-Politiker in allen Begegnungen mit unseren türkischen Gesprächspartnern bei unserer Bewertung geblieben.
  5. Aus grundsätzlichen Erwägungen sind wir aber dagegen, einen parlamentarischen Beschluß über die förmliche Feststellung eines Völkermordes an den Armeniern herbeizuführen. Unserer Meinung nach ist eine offizielle Bewertung historischer Ereignisse die Aufgabe der Geschichtswissenschaft und nicht irgendwelcher fremder Parlamente. Eine Befassung des eigenen Parlamentes mit der Geschichte seines Landes hingegen ist sinnvoll und geradezu geboten. Der Deutsche Bundestag war daher seit seinem Bestehen immer ein Zentrum der Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit, insbesondere für die Bereiche, wo Deutschland Schuld auf sich geladen hat. Eine parlamentarische Diskussion ist selbstverständlich auch sinnvoll für die Bewertung zeitgeschichtlich und tagespolitisch aktueller Entwicklungen in anderen Ländern und Regionen. So hatte der Bundestag wie jedes Parlament z.B. vor einigen Jahren beim Völkermord an den Hutu in Ruanda das Recht, Wertungen vorzunehmen. Viele Jahrzehnte zurückliegende Ereignisse sollten aber der Geschichtsschreibung überlassen bleiben. Würden wir damit bei den Armeniern anfangen, müssten wir auch die Ausrottung von Indianerstämmen in den USA im Nachhinein durch einen Bundestagsbeschluss förmlich feststellen sowie alle sonstigen Genozide anprangern, die von den europäischen Kolonialmächten in Afrika, Lateinamerika und Asien begangen wurden. Dies kann nicht die Aufgabe des deutschen Parlamentes sein.
  6. Die Türkei hat insbesondere nach der Befassung der französischen Nationalversammlung mit der Armenienfrage eine Überempfindlichkeit an den Tag gelegt, die bis zur Androhung der Stornierung von Waffenkäufen ging. Damit hat sich die Türkei selbst einen schlechten Dienst erwiesen. Auch wenn wir uns gegen einen solchen förmlichen Beschluß in Deutschland wenden, sind wir doch der Ansicht, dass ein Land wie die Türkei, das in die EU strebt, solche Diskussionen aushalten können muss. Vielmehr noch, eine wirkliche ‚Europa-Reife‘ verlangt unbedingt auch die Fähigkeit zur kritischen Vergangenheitsbewältigung einschließlich von Schuldanerkennung. Die türkischen Reaktionen gegenüber Frankreich können daher für uns kein Grund sein, aus außenpolitischer Rücksichtnahme unsere Haltung zu ändern.
  7. Sollte es zu einer Debatte über den Gruppenantrag im Plenum des Deutschen Bundestages kommen, werden wir in der Sache unsere eindeutige Auffassung über den türkischen Völkermord an den Armeniern wie bisher vertreten. Wir werden darüber hinaus auch unsere Kollegen in der Großen Türkischen Nationalversammlung ermuntern, sich kritischer als bisher mit der eigenen Geschichte zu befassen und sich der international unumstrittenen Bewertung anzuschließen. Unsere Haltung wird dadurch sehr klar zum Ausdruck kommen. Einen förmlichen Beschluß brauchen wir dazu nicht. Den Antrag selbst werden wir daher aus den genannten Gründen ablehnen.

 

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