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Dagestan
Unaufhaltsamer Zerfall einer gewachsenen Kultur interethnischer Balance?
Von Prof. Dr. Otto Luchterhandt / Universität Hamburg
“‚Dagestan wird sich höchstens noch zwei Jahre halten‘. Nichts dergleichen! Dagestan bleibt eine einheitliche, unteilbare Republik im Verband der Rußländischen Föderation.”
Magomedsalich Gusaev,
Minister für die Angelegenheiten der Nationalitäten und für Auswärtige Beziehungen Dagestans,
Mai 1998.
Inhaltsübersicht
Dagestan
I. Einleitung : Zur ethnischen Struktur und Dynamik Dagestans
Balkan und Kaukasus sind oft miteinander verglichen worden. Beide Regionen zeichnen sich durch eine ungewöhnlich reiche Vielfalt an Völkern, “Volkssplittern” und Sprachen, durch Flickenteppichen gleichende ethnische Gemengelagen und kulturhistorische Verschiedenartigkeiten aus, dies alles auf engstem geografischen Raume. Mit dem Zerfall und Untergang der beiden “sozialistischen” Föderationen Sowjetunion und Jugoslawien ist eine weitere, die tragische, “pathologische” Gemeinsamkeit beider Regionen schmerzhaft und tief ins politische Bewußtsein der Weltöffentlichkeit eingeprägt worden: Gewaltausbrüche zwischen den Volksgruppen, Blockaden, Krieg, Vertreibung, Völkermord. Dabei ist es im ehemaligen Jugoslawien zu einem “seriellen” Ablauf gekommen, weil vor allem ein- und derselbe Akteur, die politische Führung Serbiens sich dem Konzept einer chauvinistischen Macht- und Expansionspolitik verschrieben hatte. Zwar fehlt es auch im Kaukasus nicht an einem dominierenden Akteur, aber Rußland, mag es auch mehr oder weniger tief in die aktuellen Konflikte – Berg-Karabach, Abchasien, Inguschetien, Süd-Ossetien, Tschetschenien – verstrickt sein, folgt heute im Kaukasus keiner expansionistischen Vision mehr, sondern bemüht sich um Bewahrung eines allmählich wegbrechenden Besitzstandes.
Gleichwohl sind nun auch im Kaukasus, und zwar auf seiner “russischen” Nordseite, die Gewaltausbrüche zwischen den Volksgruppen zum Flächenbrand geworden, nachdem in der Republik der Karatschaier und Tscherkessen der Versuch, das Staatsoberhaupt erstmals in demokratischen Wahlen zu bestimmen, die unterlegene tscherkessische Seite zur Gewalt greifen ließ, womit – wie 1991/92 im Falle der Republik der Tschetschenen und Inguschen – die Sollbruchstelle einer weiteren “Bindestrich-Republik” empfindlich getroffen wurde1
Auch der vorliegende Beitrag betrifft den Nordkaukasus; er lenkt bewußt den Blick auf Dagestan, dessen Schicksal völlig im Schatten der einseitig auf Tschetschenien konzentrierten internationalen Medienberichterstattung steht. Dabei gilt die sich östlich und südöstlich an Tschetschenien anschließende und sich längs dem Kaspischen Meer hin erstreckende Republik Dagestan spätestens seit dem Ausbruch des Tschetschenien-Krieges im November 19942 als eine im höchsten Grade von interethnischen bewaffneten Unruhen, Verfall der zivilen Ordnung, Zerfall in lokale Machtzonen, Krieg und Chaos bedrohte Region3. Die Voraussetzungen dafür sind in vieler – ethno-politischer, sozio-ökonomischer, mental-kultureller, religiöser und nicht zuletzt geopolitischer – Hinsicht bedrückend günstig, denn in allen diesen Dimensionen hat sich in dem guten Jahrzehnt seit der Perestrojka ein Konfliktpotential aufgebaut, das selbst von vorsichtigen Beobachtern als hochexplosiv eingeschätzt wird. Die folgenden Ausführungen sollen zunächst einen gedrängten Überblick über die konfliktverursachenden und konfliktverschärfenden Faktoren im heutigen Dagestan liefern, um dann der Frage nachzugehen, welche konfliktlösenden, konfliktmildernden und auch -stabilisierenden Faktoren existieren.
Keine Region des Kaukasus, vielleicht sogar, wie verschiedentlich behauptet wird, der ganzen Erde, weist auf einem so begrenzten Territorium und auf der Grundlage einer so geringen Einwohnerzahl (heute ca. – ohne Flüchtlinge – 2,2 Mio) eine so hohe ethnische und sprachliche Vielfalt auf wie Dagestan: neben ca. 30 Volksgruppen mit eigenständigen, teilweise ganz verschiedenen Wurzeln zuzuordnenden – indoeuropäischen, Turk- und kaukasischen – Sprachen sind über 70 Dialekte verzeichnet worden4. Allerdings hatte nur ein gutes halbes Dutzend Völker es zu stabileren feudalen Herrschaftsgebilden im Laufe der Geschichte gebracht, die dann nach der Einverleibung Dagestans in das Kaiserreich Rußland Grundlage einer vorläufigenVerwaltungsgliederung wurden5. Die größeren Völker verfügten neben sogenannten “freien Gesellschaften” bzw. Territorialgemeinschaften über Feudalherrschaften, die immer auch zumindest kleinere Teile anderer Volksgruppen mitumfaßten. Zahlenmäßig am stärksten waren die Awaren. In sozio-politischer Hinsicht hatten jedoch die Kumyken eine herausragende Position, zum einen, weil sie die reicheren Tal- und Küstenzonen bewohnten und weil ihre Sprache die regionale lingua franca war (in welcher Rolle sie zur Sowjetzeit vom Russischen abgelöst wurde)6, zum anderen, weil der über die kleineren kumykischen Fürstentümer(Mechtul usw.) gebietende Schamchal von Tarki (Festung Burnaja; Stadt Petrovsk – später Machatschkala) zugleich die Würde eines Wali (türkisch: Provinzgouverneur) von Dagestan besaß. Neben dem Schamchalat von Tarki bestanden die Khanate der Awaren (Chunzach), der Laken (Kazikumuch), und der Lezgier (Kjura), das Ucmijat der Darginer (Kajtak), das Kaziat und Majsumat der Tabassaraner.
Nach dem Ende des “Müridenkrieges” (1860) wurde Dagestan in den Rang eines Gebiets (oblast‘) erhoben und in Bezirke (okrug) aufgegliedert, von denen – etwas vereinfacht – drei den Awaren, zwei den Kumyken und je einer den Darginern, Lezgiern, Laken und Tabassaranern zugeordnet waren. 1920/21 wurde dann der nun erheblich erweiterte Oblast‘ Dagestan zu einer Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik umgestaltet.
Die sowjetische Nationalitätenpolitik verfolgte in Dagestan das Ziel einer “konsolidierenden Nationsbildung”, d.h. einer kulturell-administrativen Zusammenfassung sprachlich eng miteinander verwandter Völkerschaften7
Das über weite Strecken gebirgige, stark zerklüftete Relief Dagestans und die recht begrenzten Talzonen begünstigten zu früheren Zeiten insgesamt ein eher friedliches, weil relativ getrenntes und daher kontaktarmes Nebeneinander der Gebirgler (gorcy) untereinander und mit den Talbewohnern. Vor allem Letztere wurden allerdings durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder von ausgreifenden und durchziehenden Eroberern unterworfen und tributpflichtig gemacht, weil die Kontrolle über die Nord-Süd-Verbindung und der berühmten “Völkerpforte” von Derbent immer besonders angestrebt wurde. Insgesamt blieben aber die Grenzen der von den Völkerschaften eingenommenen mehr oder weniger kleinräumigen Siedlungsgebiete auch nach der Eroberung des Kaukasus durch Rußland in ihren Kernen ethnisch stabil, auch wenn vor allem der große Kaukasus-Krieg (1828-1864) in Dagestan und Tschetschenien wegen der genozidären Kriegführung der russischen Generalität die Bevölkerung stark dezimierte
Nachhaltige ethno-demographische Veränderungen in der Sowjetepoche bewirkten der beschleunigt einsetzende Prozeß der Verstädterung (Anstieg von ca. 27 % 1959 auf 45 % 1989), begleitet von höherer ethnischer Durchmischung der Städte, Maßnahmen der Industrialisierung und Infrastrukturverbesserung (Verkehrswege, Energieleitungen, Wasserversorgung usw.), aber auch vor allem im Zusammenhang mit den Deportationen und Zwangsumsiedlungen während des Zweiten Weltkrieges, als 1944 die Tschetscheno-Inguschische ASSR aufgelöst und mit der Deportation des tschetschenischen Volkes nach Mittelasien auch der in Dagestan lebende tschetschenische Stamm der Akkiner zwangsumgesiedelt wurde8
Heute, nach dem Untergang der UdSSR und eingegliedert in den Staatsverband der Rußländischen Föderation, stellen sich die vom Staatsrecht Dagestans besonders anerkannten9 14 Völker in folgendem Stärkeverhältnis dar (Näherungswerte): Awaren (28 %), Darginer (16 %), Kumyken (13 %), Lezgier (12 %), Laken (5 %), Tabasaraner (5 %), Azeris (4,2 %), Tschetschenen (5 %), Nogaier (2 %) sowie Aguler, Rutuler, Taten und Zachuren zusammengenommen 3 %10. Der Anteil der Russen, Ukrainer, Weißrussen, kurz: der Slawen, beträgt etwas über 6 % (1999)11.
Es beruht auf historischer Erfahrung, daß ein aus vielen sprachlich und kulturell unterschiedlichen Volksgruppen zusammengesetztes Gemeinwesen wie Dagestan erheblich anfälliger für Feindseligkeiten, Streit und Zwietracht ist als eine ethnisch mehr oder weniger homogene Gesellschaft. Ganz besonders gilt dies für die laufende Epoche der Weltgeschichte, in welcher das ethno-nationale Prinzip der Staatsbildung im Zeichen der gelebten oder wenigstens verkündeten Prinzipien von Demokratie, allgemeinem Wahlrecht und Mehrheitsherrschaft sowie eines hemmungslosen Expansionismus nationalsprachlicher und national-kulturell einseitig ausgerichteter elektronischer Medien ihren mit der Französischen Revolution angetretenen Siegeszug weltweit vollenden. Denn die in allen Menschengruppen bzw. Gesellschaften unvermeidlich auftretenden politischen, ökonomischen, sozialen und sonstigen Konflikte des Alltags haben in multiethnisch strukturierten Gesellschaften in aller Regel jeweils auch eine ethnische Färbung, drohen daher aus einem vornehmlich ethnischen Blickwinkel wahrgenommen und bewertet zu werden und sich infolgedessen zu interethnischen, unter Umständen gewaltsamen Auseinandersetzungen zu steigern.
Das Konfliktpotential im postsowjetischen Dagestan wird durch drei zwar tatsächlich eng miteinander verbundene und ineinander übergehende, theoretisch aber voneinander zu unterscheidende Faktoren bestimmt, nämlich
Die Konfliktkulisse Dagestans wird im folgenden ausgemalt, wobei natürlich nur ein mehr oder weniger ungenaues Bild entstehen kann, dessen Gesamteindruck, aus mittlerer Entfernung betrachtet, jedoch der Wirklichkeit ziemlich nahekommen dürfte.
II. Konfliktverursachende und konfliktverschärfende Faktoren im heutigen Dagestan
a. Wegfall sowjetstaatlicher Stabilitätsmechanismen
Für eine Region wie Dagestan war der Zerfall und die Auflösung der UdSSR besonders einschneidend und gefährlich. Gerade die Strukturen des Sowjetstaates waren prinzipiell geeignet und wirkten sich auch tatsächlich dahingehend aus, daß in ethnischer Hinsicht so extrem zersplitterte Verwaltungsgebiete wie Dagestan stabilisiert wurden, und zwar erstens durch den politisch-ökonomischen Zentralismus, indem nämlich auch die für die Regionen und örtlichen Verhältnisse weniger bedeutsamen Fragen entweder vom zentralen Parteiapparat oder aber von den zentralen Branchenministerien in Moskau entschieden wurden, zweitens durch die fiskalische, sozio-ökonomische Alimentierung des traditionell strukturschwachen, auf Subventionen angewiesenen Gebiets, drittens durch den sorgfältig austarierten Proporz der Nationalitäten und Ethnien, zum einen bei der Bildung der Vertretungskörperschaften, angefangen bei dem Obersten Sowjet der ASSR Dagestan12, zum anderen bei der Kaderpolitik im Bereich sowohl der staatlichen Exekutivorgane als auch derjenigen der Partei. Infolgedessen waren viele Streitfragen den rivalisierenden örtlichen Machtinteresse entzogen. Ferner war ein zwar niedriger, insgesamt aber durchaus ausreichender Mindeststandard der Versorgung in der Region gesichert, drittens konnte keine der Nationalitäten Dagestans eine ethno-politisch völlig beherrschende Stellung erringen bzw. einnehmen, und viertens konnten ethnische Gruppen, die sich benachteiligt oder unterdrückt wähnten, in Moskau Beschwerde führen und dabei durchaus auf Erfolg hoffen. Und noch ein weiterer konfliktverringernder bzw. –eindämmender Faktor kommt hinzu, der sich gerade aus dem imperialen Charakter und der de facto unitarischen Verwaltungsstruktur des Sowjetstaates ergab, nämlich die Tatsache, daß der Kaukasus insgesamt dem Sowjetstaat einverleibt war und daß die Grenzen zwischen den Unionsrepubliken des Transkaukasus und den “Autonomen” Republiken des der Rußländischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) eingegliederten Nordkaukasus sowie die Grenzen dieser untereinander nur administrativer Natur waren, die Freizügigkeit der Sowjetbürger folglich nur geringfügig einschränkten, so daß mit territorial-administrativen Grenzen regelmäßig verbundene trennende Wirkungen im Alltagsbewußtsein der Sowjetbürger so gut wie keinen Niederschlag fanden. Aus diesem Grunde konnte die Tatsache keine bedrohliche Sprengkraft entfalten, daß die Verwaltungsgrenzen die Siedlungsgebiete vieler Volksgruppen mehr oder weniger “künstlich” zerschnitten – dies auch im Falle Dagestans, nämlich das Siedlungsgebiet der Lezgier im Süden zu Azerbajdschan, der Tschetschenen im Westen zur Tschetschenisch-Inguschischen ASSR, der Nogaier im Norden zum Kraj Stavropol und zur Kalmykischen ASSR, um nur die wichtigsten Fälle aufzuzählen.
Der Aufstieg der Unionsrepubliken zu souveränen Staaten mit allen Völkerrechtssubjekten eigenen Attributen zerstörte die schubweise seit dem Frieden von Gulistan (1813) unter Moskauer Herrschaft vollzogene Verwaltungseinheit des Kaukasus. Nun wurden die administrativen Grenzen zu trennenden Staats-, Rechts-, Zoll- und Wirtschaftsgrenzen hochgestuft, und es trat eine in der Geschichte so nicht bekannte Abtrennung des “Nordkaukasus” und damit auch Dagestans vom Transkaukasus ein.
Kaum weniger einschneidend ist die Statusänderung, welche Dagestan ebenso wie auch die anderen autonomen Republiken innerhalb der RSFSR mit ihrem Souveränitätserklärungen (Dagestan: 13.5.1991)13und der Verfassungsänderung Rußlands vom 21.4.1992 erfuhr, nämlich die Aufwertung zu einem Regionalstaat, einem Gliedstaat innerhalb einer Föderation. Zwar hat Dagestan auch in dem Neustaat “Rußländische Föderation” eine zentralstaatliche Macht als höhere Regierungs- und Verwaltungsebene über sich, aber hier bestehen nun grundsätzliche, d.h. strukturelle Unterschiede im Vergleich zu dem politisch-administrativen Verhältnis zwischen dem Zentralkomitee der KPdSU und dem Ministerrat der UdSSR einerseits, den Organen der ASSR Dagestan andererseits.
Mit der Auflösung und dem Wegfall der KPdSU als der entscheidenden politisch-administrativen unitarischen Klammer der UdSSR verlor die regionale politische Elite (auch) Dagestans das souveräne übergeordnete Befehlszentrum; sie wurde, und dies geschah durchaus ungewollt, in eine originäre, prinzipielle Eigenverantwortung für die innere Entwicklung der Republik entlassen. Zwar ist diese wegen der ausschließlichen und der “gemeinsamen” Kompetenzen mit der Föderation (als Zentralstaat) sachlich (z. B. Polizeiwesen; Kriminalitätsbekämpfung; Steuererhebung) und funktional (z. B. Rechtsprechung) durch die Verfassung der Rußländischen Föderation begrenzt, aber diese Begrenzungen lassen erstens einen politischen Schlüsselbereich von vornherein ausgespart, nämlich die Verfassungsautonomie der Republik mit Einschluß der Personalhoheit über die Besetzung der Verfassungsorgane und regionalen Verwaltungsbehörden und zweitens, und dies kennzeichnet und prägt die Lage Dagestans seit dem Zerfall der UdSSR als eines einheitlichen Wirtschaftsraumes, das neue föderale Zentrum Rußlands ist finanziell und wirtschaftlich, und nicht zuletzt deswegen auch politisch und administrativ, so schwach, daß es zur kraftvollen Ausübung seiner verfassungsrechtlichen Prärogativen und Kompetenzen entweder gar nicht oder günstigstenfalls nur punktuell und vorübergehend in der Lage ist.
b. Niedergang der Wirtschaft
Schon zur Sowjetzeit gehörte Dagestan zu den am schwächsten entwickelten Regionen der RSFSR. Das stark zerklüftete, weitgehend von Hochgebirge geprägte und daher insgesamt eher dünn besiedelte Land lud nicht zu breiten Investitionen ein, und so war Dagestan ein mehr oder weniger in hohem Maße von Unionssubventionen abhängiges Gebiet. Der Zusammenbruch der Zentralverwaltungswirtschaft mitsamt ihrem Kern, dem militärisch-industriellen Komplex, der in Dagestan über 80 % der Industriebetriebe umfaßte14, leitete eine Talfahrt ein, die sich Mitte der 90er Jahre durch den Tschetschenien-Krieg und die mit ihm verbundene Wirtschaftsblockade mit zweistelligen Schrumpfungsraten noch beschleunigte15. Infolge von Konversionsmaßnahmen, Kürzungen oder Wegfall föderaler Subventionen und ferner die schon 1990/91 erfolgte Unterbrechung der lebenswichtigen Nord-Süd-Transportverbindungen durch Tschetschenien nach Azerbajdschan kam die Tätigkeit vieler Unternehmen zum Erliegen. Die Arbeitslosigkeit, schon immer ein Problem Dagestans, gilt längst als die höchste in der Rußländischen Föderation; sie stieg in Industriestädten bis auf 90 % (z. B. Kaspijsk), auf dem Lande auf über 60 %, nachdem Teile der traditionellen Lebensmittelkonservenfabriken, der Fischverarbeitung und des Weinanbaus aus unterschiedlichen Gründen ihre bisherigen Märkte verloren hatten und sie ihre Tätigkeit einstellen mußten16. Die Möglichkeiten, in anderen Regionen saisonal oder dauerhaft Arbeit zu finden, verschlechterten sich zugleich nachhaltig, nicht zuletzt auch deswegen, weil die in den Kernregionen Rußlands tiefsitzenden und von den Behörden zusätzlich “gepflegten” Vorurteile gegenüber “Personen kaukasischer Nationalität” (lica kavkazskoj nacional’nosti) sich in der Situation der allgemeinen sozio-ökonomischen Krise, der virulenten Knappheitsprobleme und der Furcht vor der steigenden Kriminalität zu massivem Verdrängungsdruck steigerte. Viele Saisonarbeiter zogen es daher vor, nach Dagestan zurückzukehren17. Da ihre zu beträchtlichem Anteil in kargen Hochgebirgslagen gelegenen Heimatdörfer ihnen keine Existenzmöglichkeit bieten, wenden sie sich den Städten und Ortschaften des Tieflandes zu, wo sie zum einen das Problem der Arbeitslosigkeit, zum anderen aber auch die Auseinandersetzungen um den Boden verschärfen. Dieser ist noch immer nahezu völlig in Staatseigentum, was bedeutet, daß er sich tatsächlich in der hoheitlichen Verfügungsgewalt der Rayonadministrationen befindet, die ihrerseits zumeist nach dem traditionellen Proporz von dem in dem betreffenden Rayon kompakt siedelnden Ethnos beherrscht wird, naturgemäß das ethnische Prinzip der Bodennutzungsverteilung durch Migranten aus anderen Volksgruppen gefährdet sieht und sich ihren Ansprüchen widersetzt. Die Bodenverteilung und Bodennutzung wurde in neuerer Zeit auch dadurch zu einem Problem, daß sich die verfügbare Nutzfläche des Tieflandes wegen des kontinuierlichen signifikanten Anstieges des Kaspischen Meeresspiegels infolge tektonischer Erdverschiebungen, aber auch aufgrund ökologischer Zerstörung manchenorts bereits fühlbar verringert hat.
Die Hoffnungen und Wünsche der dagestanischen Regierung, die Föderation möge die Misere durch stärkere Finanzhilfen und die Förderung bestimmter Infrastrukturmaßnahmen mildern, haben sich bislang nicht erfüllt18: weder wurde der (eisfreie) Hafen Machatschkalas noch der Flughafen der Republik zu internationalen Knotenpunkten ausgebaut, weder wurden die in Aussicht genommenen “freien Wirtschaftszonen” eingerichtet noch der Güter- bzw. Transitverkehr nach Azerbajdschan befriedigend, geschweige denn wirtschaftsfreundlich geordnet.
Obwohl der Haushalt Dagestans zu 85 % vom föderalen Haushalt Rußlands abhängt19, bekommt Dagestan real seit Jahren häufig nicht mehr als allenfalls die Hälfte dessen zugewiesen, was im Föderalhaushalt eigentlich angesetzt ist20
Das einzige Versprechen, das Moskau erfüllt hat, ist der Neubau einer ca. 80 km langen Eisenbahnstrecke, welche eine Umgehung des Territoriums der Republik Tschetschenien ermöglicht, um im Kraj Stavropol Anschluß an das gesamtrussische Eisenbahnnetz zu finden. Der Transitverkehr auf der Schiene nach Azerbajdschan ist damit wieder möglich, allerdings weit davon entfernt, auch tatsächlich sicher und zuverlässig zu sein
Die verzweifelte wirtschaftliche Lage hat die am Rande des Kaspischen Meeres siedelnden Menschen in den letzten Jahren immer massiver dazu gedrängt, auch ohne Lizenz und mit verbotenen Methoden, kurz: Raubfischerei, zu betreiben, die wegen des im In- und Ausland begehrten (Stör-)Kaviars einträgliche Gewinne verspricht. Die Tatsache, daß in der letzten Zeit sich die Zusammenstöße mit dem Föderalen Grenzsicherheitsdienst nicht nur häuften, sondern daß sich ihrerseits Raubfischer zu Flotten von 50 und mehr Booten verbünden und gegen die staatlichen Kontrollboote vorgehen, kann (auch) als Anzeichen für das Ausmaß wirtschaftlicher Not angesehen werden21.
c. Multipler Destabilisierungsfaktor ‚Tschetschenien‘
1. Territorialkonflikte: das Akkiner-Problem
Die vielfältigsten und gefährlichsten Wirkungen der Destabilisierung Dagestans gehen von den anhaltenden Konflikten in und um Tschetschenien aus. Historisch sind die benachbarten, ethnisch und kulturell ineinander übergehenden Regionen immer eng miteinander verbunden gewesen, am festesten im jahrzehntelangen gemeinsamen Widerstand gegen die Einverleibung des Kaukasus in das Kaiserreich Rußland unter ihrem rasch zur Legende gewordenen islamischen Führer, dem Imam Schamil‘22.
Der Tschetschenien-Krieg hat Dagestan nicht nur wirtschaftlich schwer in Mitleidenschaft gezogen, sondern die Republik – zumindest zeitweise – auch zum Zufluchtsort für ca. 200 000 Flüchtlinge – Russen, Nogaier, aber auch Tschetschenen – gemacht23 und die Bevölkerung Dagestans kurzfristig, mitsamt den sich daraus naturgemäß ergebenden zusätzlichen Belastungen auf ca. 2,3 Mio. anschwellen lassen. Etwa 70 000 der tschetschenischen Flüchtlinge haben in dem grenznahen Raum und insbesondere in den historisch einmal zu Tschetschenien gehörenden Rayons von Novolakskoe und Chasavjurt bei Verwandten und Bekannten Aufenthalt genommen, dadurch das in diesen Zonen ohnehin fragile interethnische Gefüge nachhaltig gestört und eine ständige Quelle virulenter Konflikte geschaffen. Wie viele von ihnen seit den Waffenstillstandsvereinbarungen und dem “Vorfrieden” von Chasavjurt (1996) und der davon ausgehenden begrenzten Beruhigung der Lage sich heute noch in Dagestan aufhalten oder aber weitergezogen oder zurückgekehrt sind, läßt sich mangels verläßlicher Erhebungen nicht sagen. Der im Norden und Osten von den Flüssen Terek und Sulak begrenzte Rayon Chasavjurt gehörte bis zur Bildung der Dagestanischen ASSR (1920/21)24 zum Verwaltungsbezirk des Terek-Gebietes, also, grob gesprochen, zu Tschetschenien, und wird inzwischen von der “Tschetschenischen Republik Itschkerja” beansprucht25. Traditionell war er, nach seiner Verkleinerung 1928, vom tschetschenischen Stamm der Akkiner und von Kumyken besiedelt. Fast ausschließlich von den Akkinern besiedelt war der südlich anschließende Rayon von Auch26. Als 1944 u.a. die Tschetschenen wegen angebliche Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht nach Kazachstan und Mittelasien deportiert und die Autonome Republik der Tschetschenen und Inguschen aufgelöst wurde, dehnte man diese Maßnahme auch auf die Akkiner der Rayone von Chasavjurt und Auch aus, siedelte zwangsweise in letzterem Kumyken, Awaren und vor allem Laken an und benannte ihn in Novolakskij Rayon um. Nach dem Tode Stalins erwiesen sich diese Vertreibungsmaßnahmen als ‚Zeitbomben‘.
Im Zusammenhang mit dem planmäßigen Wirtschaftsaufbau setzte in den 50er Jahren zunächst ein Zuzug von Awaren in den Rayon von Chasavjurt ein, worauf sich schrittweise die ethnischen Stärkeverhältnisse veränderten. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU (1956) rehabilitiert, kehrten gruppenweise auch die Akkiner in den Rayon Chasavjurt zurück, und infolge der Perestrojka ist der tschetschenische Zuzug noch stärker geworden27. Wie gefährlich die ethnischen Spannungen geworden waren, zeigte sich spätestens 1997, als bei der Stadtratswahl des Verwaltungschefs von Chasavjurt, ein bis dahin von den regional dominierenden Kumyken besetzter Posten, – wie gemunkelt wurde – durch den Kauf zweier “tschetschenischer Stimmen” der Aware Sajgidpascha Umachanov bei der Abstimmung siegte, worauf sich Kumyken und Tschetschenen verbündeten, und ihre Mitglieder im Stadtrat – 13 von 25 – wegen Wahlfälschung, und aus Solidarität außerdem 13 von 39 des Rayonsowjets aus Protest ihre Mandate niederlegten. Es kam zu bewaffneten Unruhen mit Granatwerfereinsätzen gegen prominente Volksgruppenvertreter28.
Eher noch angespannter und gewaltgeneigter sind die interethnischen Verhältnisse im südlich sich anschließenden Rayon von Novolakskoe29. Nachdem die von dort vertriebenen Akkiner gruppenweise in ihren alten Rayon zurückgekehrt waren und sich die dagestanische Regierung unter dem Druck der Tschetschenen zu Rehabilitierungsmaßnahmen der Akkiner bereiterklärt hatte30, wurden die zwischenzeitlich angesiedelten Laken teilweise gewaltsam aus ihren Häusern verdrängt31. Die dagestanische Regierung drängte ihrerseits auf der Grundlage eines föderalen Umsiedlungsprogramms die Laken, den Rayon zu verlassen und sich in der Umgebung der Hauptstadt Machatschkala anzusiedeln, ohne jedoch über Absichtserklärungen hinauszugehen und die nötigen materiellen Voraussetzungen und Anreize dafür zu schaffen, aber auch ohne damit, unabhängig davon, besonderen Erfolg zu haben32. Unter solchen Umständen folgten die Laken dem Beispiel, das vor allem in den Grenzzonen zu Tschetschenien, aber auch darüber hinaus um sich gegriffen hatte, nämlich sich selbst zu bewaffnen bzw. freiwillige Selbstschutzgruppen auf ethnischer Grundlage, teilweise im Ortschafts-, teilweise im Rayonmaßstab, aufzustellen.
2. Offene Grenzen und Übergriffe; Geiselnahmen
Der “Tschetschenien-Faktor” kann sich nicht zuletzt auch deswegen so destabilisierend auswirken, weil die tschetschenisch-dagestanische Grenze nur unzureichend kontrolliert und daher de facto offen ist. Die Schwierigkeiten beginnen hier bereits damit, daß der juristische Status der Grenze zu Tschetschenien unklar ist33. Da Moskau der “Tschetschenischen Republik Itschkerja” bislang die förmliche völkerrechtliche Anerkennung versagt hat, ist aus staatsrechtlicher Sicht die Grenze (auch) zu Dagestan nicht mehr als die Trennlinie zwischen zwei Gliedstaaten der Föderation, also eine Binnengrenze, deren inhaltliche Bedeutung sich im wesentlichen auf administrativem Gebiete erschöpfen müßte (“Verwaltungsgrenze”). Tatsächlich aber ist Tschetschenien “inneres Ausland” (Halbach), und – realpolitisch gesehen – von Rußland heute innerlich weiter entfernt und stärker getrennt als von jeder früheren Unionsrepublik und heutigem Nachbarstaat.
Bislang konzentrierten sich die föderalen Grenzsicherungsmaßnahmen darauf, die tschetschenische Grenze zum Kraj Stavropol unter Kontrolle zu bekommen34.
Die dagestanische Grenze ist dagegen weitaus schwächer besetzt35. Das hat nicht nur den Grund, daß man insgesamt hunderte von Verbindungswegen und das heißt vor allem von Bergpfaden zwischen den dagestanischen und den tschetschenischen Dörfern mit Posten versehen müßte, womit man sich schon finanziell überfordert fühlt, sondern den weitaus wichtigeren Grund, daß man fürchtet, durch solche Maßnahmen die im Grenzraum von Dagestan siedelnden Tschetschenen durch die Abriegelung der Grenze zu provozieren und mit ihnen in einen auf die Dauer wohl nur zu verlierenden Kleinkrieg verwickelt zu werden. Gleichwohl sind einige Grenzabschnitte durch Stacheldrahtverhaue, darüber hinaus aber auch durch Minenfelder “gesichert”36, die allein im Rayon von Novo-Lakskoe ca. 900 ha unpassierbar gemacht haben. Da verläßliche Karten ihrer Verlegung nicht existieren und überwiegend wertvolle landwirtschaftliche Nutzflächen betroffen sind, sind die föderalen Sicherheitsorgane im Grenzgebiet Dagestans alles andere als populär.
Den Zustand einer weitgehend offenen Grenze hielt man zu dieser Zeit, das galt wohl auch für die Regierung Dagestans, für das kleinere Übel in der Situation. Stattdessen beschloß der Staatsrat Dagestans 1997, in den Grenzrayonen Selbstschutzverbände aufzustellen. Freilich sind sie nach (rein) territorialem Prinzip kaum zustande gekommen; vielmehr lief die Initiative bzw. Anordnung eher auf eine Legalisierung der von den Volksgruppen bzw. ihren “Bewegungen” aufgestellten bewaffneten Verbände hinaus, was wiederum starke Besorgnis und allerdings wirkungslos bleibende Opposition in Moskau hervorrief.
Die hohe Durchlässigkeit der tschetschenisch-dagestanischen Grenze hat insbesondere die Grenzrayone Dagestans für die im politischen, militärischen und ökonomischen Raum operierenden diversen tschetschenischen Gruppen zu einem günstigen Operationsgebiet gemacht, wie auch umgekehrt, wenn auch in weit geringerem Maße, für Akteure aus Dagestan37. Noch zu den harmloseren Erscheinungen zählen die laufenden Viehdiebstähle, wobei mitunter große Herden über die Grenze nach Tschetschenien getrieben werden38. In den letzten Jahren und mit steigender Not wegen der völlig darniederliegenden Wirtschaft in Tschetschenien werden die grenznahen Dörfer und Siedlungen regelmäßig von Räuberbanden aus Tschetschenien heimgesucht. Betroffen sind selbst die dagestanischen Tschetschenen (Akkiner). Selbstschutzmaßnahmen dagegen haben sich bislang weitgehend als wirkungslos erwiesen. Objekt von Anschlägen wurde inzwischen auch die durch den Novo-Lakskij-Rayon führende Erdölleitung Baku-Novorossijsk39
Weitaus gravierender sind die Entführungen von Dagestanern oder auch von aus anderen Teilen der Föderation stammenden Personen, Privatpersonen und staatlichen Funktionsträgern, vom Milizionär bis zum Präsidentenvertreter40, und ihre Verbringung auf tschetschenisches Gebiet, um Lösegeld zu erpressen. Die bis heute spektakulärste Geiselnahme war jene, die noch während der Kämpfe in Tschetschenien im Januar 1996 unter der Führung des Feldkommandanten und Schwiegersohns von Dudaev, Salman Raduev, in der von Awaren besiedelten dagestanischen Grenzstadt Kizljar durchgeführt wurde41. Entgegen der Abmachung mit Raduev kesselten die föderalen Sicherheitskräfte das tschetschenische Geiselnehmerkommando kurz vor seinem Übertritt auf tschetschenisches Gebiet in dem von Awaren besiedelten Grenzort Pervomajskoe ein, richteten im Zuge einer dilletantischen, improvisierten Befreiungsaktion unter Ortsbewohnern und Geiseln ein Blutbad an, derweilen Raduev und seine Leute sich nach Tschetschenien retten konnten.
Seither wurden Geiselnahmen zur Alltäglichkeit. Das föderale Innenministerium registrierte 1997 1140, 1998 1415 Entführungen und Geiselnahmen42; und im dagestanischen Innenministerium richtete man eine “Abteilung für Menschenraub” ein43. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die Opposition gegen Präsident Maschadov um die ehemaligen Feldkommandanten Schamil Basaev und Salman Raduev gezielt solche Entführungen betreibt, um ihre Organisationen und Aktivitäten zu finanzieren: Menschenraub ist mangels sonstiger Einnahmen zum “Erwerbszweig” geworden44. Freilich sind solche Aktionen in Dagestan alles andere als populär, doch haben sie bislang nicht zu einer breiten übernationalen, antitschetschenischen Solidarisierung der dagestanischen Grenzbevölkerung geführt, und eine solche Entwicklung ist auch eher unwahrscheinlich.
3. Bewaffnete “Kommando-Einsätze”
In jüngster Zeit konzentrieren sich politische Kräfte Tschetscheniens darauf, teilweise im Zusammenwirken mit sympathisierenden dagestanischen Gruppen beiderseits der Grenze Fernsehsendereinrichtungen zu installieren, um über eine massive antirussische und zugleich militant-islamische sowie die Gemeinsamkeiten von Tschetschenen und Dagestanern betonende Propaganda vor allem die von der Arbeitslosigkeit besonders stark betroffenen Jugendlichen Dagestans zu indoktrinieren und für gemeinsame politische, notfalls auch bewaffnete Aktionen zu gewinnen45.
Daß tschetschenische Kommandos auch weitab der Grenze, im Inneren Dagestans voll aktionsfähig sind, zeigte der militärisch vorbereitete nächtliche Überfall auf den einst zaristischen, dann sowjetischen, heute föderalen Truppenstandort der 135. Mot. Schützenbrigade im Dezember 1997 unweit der historischen Hauptstadt Bujnaksk46, der zu einem zweistündigen Gefecht führte. Wie machtlos die föderalen und dagestanischen Sicherheitskräfte dem Treiben der tschetschenischen Kommandos gegenüberstehen, zeigen die von diesen im Juni 1999 im Kraj Stavropol und in Dagestan gleichzeitig durchgeführten Überfälle, teilweise weitab von ihren tschetschenischen Basen47. Sie erwiesen die von Stepaschin Ende April 1999 angeordneten Maßnahmen (Grenzschließung, Blockade, “Punktschläge” usw.) als Rhetorik48, und so war es eine besondere Ironie, daß er bei seinem offiziellen Besuch in Dagestan durch (noch rechtzeitig aufgedeckte) Terroranschläge hochgradig gefährdet war49. Nun dürfte der Druck außerordentlich hoch geworden sein, in der ungeklärten Grenzfrage – auch im Verlauf zwischen Tschetschenien und Dagestan – zu einer Entscheidung – sowohl in Bezug auf den Status, als auch die Art der Sicherung – zu kommen50.
d. Organisierte Kriminalität
Ein eng mit Tschetschenien verbundener Faktor der Destabilisierung ist die in vielen Formen und Gestalten auftretende Organisierte Kriminalität. Die katastrophale Lage der Wirtschaft, die Migrationsströme in die und aus der Republik Dagestan, die exponierte Lage der Republik unmittelbar neben dem geopolitischen Epizentrum des Kaspischen Beckens und des Transkaukasus, die offene Grenze zum faktisch unabhängigen Tschetschenien, der im Laufe der Jahre immer mehr zur Gewißheit gewordene Eindruck, vom föderalen Zentrum, ‚von Moskau‘ keine durchgreifende Hilfe erwarten und sich letztlich nur auf die eigenen Kräfte verlassen zu können – dies alles schafft äußerst günstige Rahmenbedingungen für Kräfte, die um jeden Preis, frei von Gesetz und moralischen Skrupeln nach wirtschaftlichem Gewinn und finanziellem Erfolg streben. Dagestan bietet ihnen aber auch noch deswegen einen besonders günstigen Boden, weil die Ärmlichkeit der Lebensverhältnisse schon immer die Versuchung wachsen ließ, eine Verbesserung in kriminellen Aktivitäten zu suchen, weil aber auch die große Zahl von Volksgruppen auf engstem Raume organisierte, illegale Formen der Selbstbehauptung unter ihnen förderte. Eine Besonderheit ist dabei, daß manche Formen der Bereicherung, die andernorts als “Korruption” gelten, von den Dagestanern – wie auch bei den Bewohnern anderer Teile des Kaukasus – für alltäglich gehalten werden und daher de facto längst Verhaltensnormen darstellen. Man mag vielleicht wissen, daß die Justiz solche Aktivitäten formell als Straftaten zu verfolgen hat, aber es fehlt der Allgemeinheit das Unrechtsbewußtsein und deswegen auch ein Verständnis für die Legitimität des staatlichen Strafanspruchs.
Der föderalen Regierung in Moskau bereitete in den letzten Jahren zunehmend Sorge, wie rasch insbesondere 1997/98, nach dem Ende des Tschetschenien-Krieges, Gesetz und zivile Ordnung Dagestans in einem Maße verfielen, daß die politische Stabilität der Republik gefährdet schien, zumal der zersetzende Einfluß Tschetscheniens immer fühlbarer wurde. Es bedurfte jedoch noch des “Putsch-Versuches” der Brüder Chatschilaev im Mai 1998 (dazu unten S. 33 f.), um die politische Führung Dagestans dazu zu bringen, dem Drängen Moskaus nachzugeben und gemeinsam entschlossen den Kampf aufzunehmen. Dabei deutet allerdings vieles darauf hin, daß die im Sommer 1998 eingeleiteten Maßnahmen gegen das organisierte Verbrechen ganz wesentlich von politischen Motiven getragen waren, nämlich darauf abzielten, Gegner der Republiksführung um Magomed Magomedali ins Abseits zu drängen, auszuschalten51 und zu erreichen, daß sie bei den für März 1999 angesetzten Parlamentswahlen kein Mandat erlangten. Die in Rußland und in der GUS insgesamt verbreitete Erscheinung, daß gerade Akteure krimineller Gruppen um der parlamentarischen Immunität willen ein Abgeordnetenmandat anstreben, kennzeichnet die Situation auch in Dagestan: Von den 121 Mitgliedern der Volksversammlung der 1999 zu Ende gegangenen Legislaturperiode waren nicht weniger als 35 vorbestraft52.
Wie ernst ‚Moskau‘ die Lage einschätzte, ließ sich daran ablesen, daß eine Sonderermittlungsgruppe unter Leitung des Ersten Stellvertretenden Innenministers der Föderation, des Generals Vladimir Koleznikov, in Machatschkala tätig wurde. Bereits im September 1998 hatte sie fast 60 Personen festnehmen lassen, darunter einen der Putschanführer, den Duma-Abgeordneten und Vorsitzenden der Partei der Muslime der Rußländischen Föderation, Nadirschach Chatschilaev, dessen Immunität die Staatsduma aufgehoben hatte, ferner den Justizminister Dagestans, den Unternehmer und Vorsitzenden der Republikanischen Partei Dagestans, Magomed Aliev, der längere Zeit hindurch hochwertig gefälschte Dollarnoten in Umlauf gebracht hatte53, diverse regionale Verwaltungschefs und auch einige republikanische Parlamentsabgeordnete, deren Immunitätsaufhebung man erreichen konnte. Allein die Tatsache, daß die Gruppe ‚Koleznikov‘ schon Ende November 1998 ihre Arbeit wieder einstellen mußte, und der danach sich wieder einpendelnde frühere weiche Kurs der Republiksführung entlarvten die Aktion als ein Strohfeuer54. Vermutlich reichte der Republiksführung die bereits mit der Kampagne erzielte Wirkung.
Der in erster Lesung verabschiedete Entwurf des Parlamentswahlgesetzes für 1999 sah zunächst den Ausschluß vorbestrafter Kandidaten vom passiven Wahlrecht vor, doch schwächte man die Initiative ab und beschränkte sich auf die Regelung, die Kandidaten zur Offenlegung ihrer Vorstrafen zu verpflichten. Der Erfolg der Maßnahme war begrenzt: Von den 17 vorbestraften Kandidaten schafften immerhin 10 den Sprung in die Volksversammlung, darunter auch der Chef des Rentenfonds Dagestans, Scharaputdin Musaev, und sein Bruder, Baraudin, die beide von der Staatsanwaltschaft wegen Unterschlagungen großen Stils gesucht werden55 Wenn man den Presseberichten vertrauen kann, dann erwarb sich die Gruppe ‚Koleznikov‘ in der kurzen Zeit ihrer Tätigkeit hohes Vertrauen in der Bevölkerung56. Ihren Erfolgen geht gleichwohl die Nachhaltigkeit ab, da die organisierte Kriminalität in Dagestan ein strukturelles Problem darstellt und nicht im Wege herkömmlicher sowjetischer Kampagnen der “Rechtsschutzorgane” wirksam bekämpft werden kann. Die ergriffenen Maßnahmen führen denn auch nur zu einer Umverteilung der “Anteile” zwischen den verschiedenen, mit den ethnischen Strukturen der Republik verfilzten kriminellen Gruppen.
e. Unsicherheitsfaktor ‚Re-Islamisierung‘
Eng mit der Entwicklung in Tschetschenien wie im gesamten Nordkaukasus verbunden ist das Erstarken des Islam im öffentlichen Leben Dagestans, insbesondere aber das Aufkommen radikaler Strömungen und Lehren, verbunden mit einer entschiedenen Politisierung, die sich nicht zuletzt in scharfer Ablehnung Rußlands, seiner früheren Rolle und heutigen Stellung im Kaukasus ausdrückt. Seitdem sich Tschetschenien unter dem Druck radikaler Kräfte zu einer islamischen Republik und als sichtbarstes Zeichen dieses Schrittes das Schariat-Gesetz zur Grundlage der tschetschenischen Rechtsordnung erklärt hat und Schariat-Gerichte mit einem Obersten Gerichtshof eingeführt wurden, sind tschetschenische “Missionsversuche” in Dagestan stärker geworden.
Dynamisch, vielfältig, widersprüchlich und zugleich verschwommen ist die heutige Situation auf religiösem Gebiet. Sie ist besonders schwer zu überschauen und einzuschätzen, weil sich hier mehrere Faktoren bzw. Entwicklungen überschneiden: erstens die religiöse Renaissance in der späten Sowjetepoche, die sich gleichzeitig in sämtlichen Regionen der UdSSR ereignete, die (auch) den “historischen”, traditionellen Religionen und ihren nur noch im engsten institutionellen Rahmen geduldeten Gemeinschaften frische Kräfte zuführte und die sich nun, mit der Gewährung religiöser Toleranz während der Perestrojka, weiter kräftigte. Für den gesamten Nordkaukasus bedeutete dies, daß der über Jahrzehnte hinweg in der Informalität der dort immer intakt gebliebenen ethnischen Sippenverbände (tejp) forbestehende “parallele” Islam57 nun wieder furchtlos an die Öffentlichkeit treten konnte, zum anderen die nun freie, öffentliche Selbstdarstellung und Werbung den Islam in der Gesellschaft neue Wurzeln schlagen ließ; zweitens die mit der religiösen Dimension zwar vielfältig verbundene, ihr gegenüber aber eigenständig und sich von ihr auch sozio-politisch durchaus unterscheidende ethnische, nationale Wiederbesinnung und Revitalisierung; drittens die Entdeckung und die Wiederbegegnung mit der eigenen vorkommunistischen Geschichte, mit den vom Sowjetstaat so lange verschütteten, unterdrückten und entstellten geistigen und kulturellen Traditionen Dagestans; viertens die infolge des Zusammenbruchs der UdSSR nun plötzlich und weitgehend ungehindert in das Land strömenden Einflüsse des Auslandes, deren Anziehungskraft schon deswegen groß war, weil man lange Jahre weitgehend von ihnen abgeschnitten gelebt hatte, dementsprechend den Reiz des Neuen, des Verbotenen und Tabuisierten mächtig verspürte und sich ihnen daher auch neugierig öffnete; fünftens die Tatsache, daß weder die interethnisch zusammengesetzte Nomenklatura bzw. Sowjetelite noch die breite Masse der Bevölkerung tiefere Kenntnisse vom Islam besitzt, vielmehr mit ihm nur noch durch Eigenheiten des Lebensstils, gewisse Eßgewohnheiten und einzelne Formen und Anlässe privater Festlichkeiten verbunden war, daß die heutige politische Elite Dagestans säkularisiert-atheistisch eingestellt, Macht und materiellen Gütern verschrieben ist.
Entgegen einer vor allem in den zentralen Medien Rußlands häufig anzutreffenden Neigung zur Vereinfachung und politischen Dramatisierung gibt der Islam im postkommunistischen Dagestan ein sehr undeutliches Bild ab. Seine Renaissance im Sinne einer “fundamentalistischen Gefahr” zu deuten, stellt nicht nur eine starke Verzeichnung der Wirklichkeit dar, sondern muß man im Ergebnis als abwegig bezeichnen. Tatsache ist allerdings, daß sich die Lage des “organisierten” Islam, in Zahlen betrachtet, im vergangenen Jahrzehnt grundlegend verändert hat: Gab es 1988 in Dagestan nur noch 27 Moscheen bzw. ihnen zugeordnete, vom Staat registrierte und von der Geistlichen Verwaltung in Bujnaksk kontrollierte Vereinigungen, so waren es Ende 1996 deren 1670, und 1998 bereits fast 2000! Dazu traten 10 islamische Hochschulen und 7 “islamische Zentren”58. Eine eindrucksvolle Vorstellung von der Dynamik der Entwicklung vermittelt die folgende Kurzinformation des Korrespondenten der Nezavisimaja gazeta aus Macha…kala, Milrad Fatullaev59: “Jedes Jahr werden in der Republik mehr Moscheen gebaut und restauriert als Schulen, Krankenhäuser und sozio-kulturelle Einrichtungen insgesamt. Die Wiedergeburt des Glaubens überschreitet alle Grenzen. Bisweilen zählt man in einem Dorf über ein Dutzend Häuser Allahs. Für die Schauspieler der nationalen Theater werden die Möglichkeiten von Gastspielen im Gebirge enger. Hier stellen die Imame der Moscheen unter stillschweigender Änderung der Entscheidung der örtlichen Verwaltungen “Veranstaltungen, die die Jugend verführen und niedrige Instinkte anstacheln” unter Tabu. Im Rayon von Botlych (Bujnaksk) z. B. gibt es in jeder zweiten Ortschaft entweder eine Medresse oder die Abteilung irgendeiner islamischen Universität. Die Schuldirektoren nehmen jetzt Veränderungen in den Unterrichtsprogrammen und Stundenplänen vor, um die Zeiten des islamischen Religionsunterrichts, religiöser Rituale und Feiertage zu berücksichtigen.”
Die Frage, welcher der im heutigen Islam profilierten Strömungen oder Richtungen sich die Bevölkerung angeschlossen hat bzw. anschließen wird, läßt sich nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge ziemlich eindeutig beantworten: der in den verschiedenen Volksgruppen Dagestans historisch verwurzelten Islam-Tradition. Diese erkennt neben dem Koran die Überlieferung (“Sunna”) als vollwertige Offenbarungsquelle an, und zwar in der besonders entschieden von der Rechtsschule der Òafiten vertretenen Form60. Auf sunnitischer Grundlage wurde dann in Dagestan, aber auch in Tschetschenien eine mystische bzw. esoterische Richtung (Tariqa bzw. Tariqat, d.h. der “Pfad”, – zu ergänzen: “der aus der Sunna kommt”; im übertragenen Sinne dann auch “Methode” )61 bestimmend, nämlich die in Mittelasien im 14. Jahrhundert entstandene (Derwisch-)Ordenslehre der Naqschbandiyya62, eine der Hauptrichtungen des sogenannten Sufismus63, die sich dann unter den feindlichen Bedingungen insbesondere des Sowjetstaates als besonders überlebensfähig erwiesen hat64. Sie war von Anfang an aufs engste mit dem sogenannten “Volksislam” verbunden, der Heiligenverehrung, dem Wundererlebnis, der Verehrung heiliger Stätten usw.65, und der Sufismus bot genügend Raum für eine Koexistenz mit den bei den Stämmen und Dorfgemeinschaften der Gebirgler des Kaukasus besonders starken lokalen Gewohnheitsrechte (adat)66. Der in der Sowjetepoche eher noch verstärkte Charakter eines anpassungsfähigen und beweglichen, daher auch gemäßigten und toleranten Islam übt auch heute, zu Beginn einer völlig neuen, indes keineswegs weniger schwierigen Epoche im staatlichen und gesellschaftlichen Leben des Nordkaukasus keine geringe Anziehungskraft aus. Allerdings sind im Islam zu verschiedenen Zeiten auch gänzlich andere, streng auf die “eigentliche” Lehre des Propheten und ihre radikale Reinhaltung gerichtete Strömungen, teilweise mit ausgeprägt politischem Charakter, zur Wirkung gekommen. Das gilt auch für Dagestan, und zwar in Gestalt des Müridismus67, jener Lehre des Islam, welche in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts zunächst der Imam Khazi Mullah68, dann vor allem aber der legendäre Imam Schamil – beides Awaren – bei den Stämmen Dagestans gewaltsam durchsetzten, um sie dann zur entscheidenden geistigen Waffe im Widerstand und Kampf gegen Rußland bei seiner Eroberung des Kaukasus zu wenden69. Diese andere spezifisch mit dem antikolonialistischen Widerstand der Völker Dagestans und Tschetscheniens gegen Rußland verbundene Richtung des Islam ist es, die seit dem Ende der UdSSR im Nordkaukasus aufs Neue, und zwar zunächst einmal in einem sehr allgemeinen Sinne Wirksamkeit entfaltet und auch jetzt wieder, wie es scheint, als politische Waffe eingesetzt wird. Heute sind es radikale tschetschenische Gruppen, die nicht nur für die völlige Trennung ihrer Republik von Rußland kämpfen, sondern auch die “Befreiung Dagestans” auf ihre Fahnen geschrieben haben und beide Republiken zu einem unabhängigen islamischen Staat mit dem Kaspischen Meer “als Tor zur Welt” vereinen möchten70. Ihr erklärtes Vorbild ist Imam Schamil und der von ihm den Völkern von “Gog und Magog” (Rußland) erklärte ‚Heilige Krieg‘, der gazavat71; im Unterschied zu jenem und seinen Mitstreitern bildet bei ihnen nicht der Islam bzw. ein bestimmtes Verständnis desselben Motiv und Grundlage des Handelns, sondern primär ein säkularer tschetschenischer Nationalismus, der mit dem Haß auf den Unterdrücker Rußland zu einer Einheit verschmolzen ist und den Islam bzw. die Religion für diese politischen Emotionen entschlossen instrumentalisiert.
Allerdings haben die radikalen Moslems Tschetscheniens Schamils Konzeption des “Müridismus” als Selbstbezeichnung nicht aufgenommen, wohl nicht zuletzt deswegen, weil – anders als zu Schamils Zeiten heute kein religiöser Führer (“Imam”) Organisator des Widerstandes im Nordkaukasus ist, sondern zutiefst säkularisierte, zu Nationalisten gewendete ehemalige Sowjetmenschen, die ihre militärische Erfahrung aus den Sowjetstreitkräften und dem Afghanistan-Krieg nun für die Unabhängigkeit von Rußland einsetzen.
Ein Schlüsselwort des Müridismus Schamils spielt aber auch bei ihnen eine wesentliche Rolle, nämlich “gazavat”, der Aufruf zum Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen72.
Die russische Presse sowie die Gegner eines politisch radikalisierten Islam im Nordkaukasus selbst 73nennen sie nach der in Saudi-Arabien herrschenden “puritanischen” Spielart des (sunnitischen) Islam, Wahhabiten, möglicherweise deswegen, weil Feldkommandeure des Tschetschenien-Krieges wie der “Jordanier” Chattab in der tschetschenischen Emigration bzw. Diaspora im Nahen Osten als Wahhabiten aufwuchsen und Anfang der 90er Jahre zum Kampf für die Unabhängigkeit ihrer historischen Heimat nach Tschetschenien zurückgekehrt sind, wo sie dann natürlich auch für ihre religiösen Überzeugungen warben und die von ihnen beherrschten Kampfzentren als streng “islamische Gemeinden” organisierten74. Wie viele solcher Dñama‘ate heute in Tschetschenien existieren und ob bzw. inwieweit sie von der legitimen Regierung Präsident Maschadovs kontrolliert werden, darüber liegen keine Angaben vor75.
Mag vereinzelt und insbesondere dort, wo islamische Missionare aus dem Nahen Osten im Nordkaukasus predigen76, das Wort “Wahhabismus” zur Selbstbezeichnung angenommen worden sein, so ist es doch auch eine Tatsache, daß selbst die Führer der radikalen Maschadov-Opposition in Tschetschenien wie Basaev und Udugov die Einordnung entschieden von sich weisen, unterstützt vom Mufti Tschetscheniens, Achmad Kadyrov77. Sie verstehen sich schlicht als Anhänger eines “reinen Islam”, wollen dieses Bekenntnis nicht in der Tradition des Wahhabitentums, sondern in der der Salafiyya bzw. der Salafiten verstanden wissen, einer in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in Ägypten aufgekommenen Reformbewegung, die eine Erneuerung des Islam, seine Versöhnung mit der Vernunft und seine Annäherung an die modernen Wissenschaften, insbesondere durch die Freilegung seiner wahren Lehren bzw. durch die Korrektur überlieferter Fehlinterpretationen von Koran und Haditen anstrebte78.
Manche Äußerungen aus dem Umkreis tschetschenischer und dagestanischer Feldkommandeure bzw. Politiker deuten darauf hin, daß die salafitische Richtung des Islam jene Plattform sein soll, von der diese Kräfte sich die religiös-politische Einigung zumindest Dagestans und Tschetscheniens, vielleicht auch weiterer Teile des Nordkaukasus erhoffen79.
1993/94 entstanden, wie es scheint, unter direktem missionarischen Einfluß saudischer Mullahs auch in Dagestan vereinzelt Dschama‘ate80. Durch den Tschetschenien-Krieg und die von ihm ausgelöste Welle islamischer, antirussischer Solida-risierung sind sie inzwischen fest unter den Einfluß des radikalen politischen Flügels in Tschetschenien (Feldkommandeur Chattab, Basaev, Raduev, Udugov) geraten. Besonders bekannt wurden die in Zentraldagestan gelegenen, von Awaren bzw. Darginern bewohnten Ortschaften Kadar, Tschabana-Machi und Kara-Machi, wo es im Mai 1997 zur bewaffneten Konfrontation zwischen “sufitischen” und “wahhabitischen” Sunniten kam81. Die drei Ortschaften erklärten sich zu unabhängigen Gemeinschaften, in denen allein das Schariat-Gesetz Geltung habe. Aus den offiziellen Reaktionen in Machatschkala muß man den Schluß ziehen, daß man von diesen Vorgängen äußerst beunruhigt ist, sie jedenfalls keineswegs für lokale Randereignisse hält, in ihnen vielmehr mögliche, sprichwörtliche Funken in explosiver Umgebung sieht und daher entschlossen zu sein scheint, dem Prozeß einer quer zur ethnischen Differenzierung des Landes verlaufenden islamisch-konfessionellen Parteibildung frühzeitig entgegenzutreten: Mit den Konfliktparteien verhandelte eine gemischte, Staatsrat, Parlament und Regierung repräsentierende Kommission unter Leitung des Vize-Regierungschefs sowie mit Beteiligung von Innnenminister und Nationalitätenminister; zu vermitteln suchte auch der Mufti Dagestans, Sajidmuchammed Chadñi Abubakarov82. Während man in Tschabana-Machi eine konfliktlösende Vereinbarung erzielte, blieb der massiv von Tschetschenien aus unterstützte Dñama’at Kara-Machi völlig unzugänglich. Der Konflikt schwelt fort, und wie der Verlauf der Parlamentswahlen und der Volksabstimmung von 1999 zeigt, die in den Siedlungen boykottiert wurde, hat Machatschkala kaum noch Einfluß auf die Orte83. Zu der Polemik und den teilweise hysterischen Reaktionen kontrastiert auffallend das Bild von Sittenstrenge, Ordnung und relativem Wohlstand, das vom Dschama’at Kara-Machi von Besuchern gezeichnet wird84. Daß die aus Sowjetzeiten übernommene “Geistliche Verwaltung der Muselmanen Dagestans” von den neu aufgekommenen, radikalen moslemischen Gruppen als Hauptfeind im religiös-politischen Raum betrachtet wird, ergibt sich aus vielen Äußerungen ihrer Führer. Gleichwohl war es eine Sensation, als im Sommer 1998 ihr Vorsitzender, der Mufti Abubakarov ermordet wurde. Die Täter sollen zu den boeviki gehören, die an dem Chatschilaev-Putsch wenige Wochen zuvor teilgenommen hatten85.
f. Tendenzen ethnischer Fragmentierung und Segregation
Es ist nun die Aufmerksamkeit auf einige Faktoren und Prozesse zu lenken, die im Prinzip unabhängig von Einwirkungen aus Tschetschenien und anderen Regionen des Nordkaukasus zur inneren Desintegration Dagestans beitragen und zugleich wichtige Anzeichen für eine solche sind. Dies sind erstens die Bildung von politischen “Bewegungen” unter den einzelnen Volksgruppen mit dem Anspruch ihrer authentischen Vertretung und zweitens Tendenzen zu konfessioneller Gruppenbildung in der moslemischen Bevölkerung.
1. Organisation der Volksgruppen zu teilmilitarisierten Bewegungen
Die ethnisch-nationale Organisationsbildung in Dagestan ist noch unerforscht86. Feststeht, daß sie ein untrennbarer Teil jenes sozio-politischen Emanzipationsprozesses ist, der von der Perestrojka-Politik Gorbatschevs angestoßen wurde und beinahe bei allen nichtrussischen Nationalitäten der UdSSR zur Gründung von in Distanz zum Partei-und Staatsapparat stehenden “Volksfronten” führte. In vielen GUS-Staaten stellten sie eine wichtige Zwischenstufe auf dem Wege zur politischen, pluralistischen Selbstorganisation der “Gesellschaft” dar87. Während aber etwa in den transkaukasischen Nachbarrepubliken die azerische Volksfront Eltschibejs und die Karabach- bzw. die Armenische Gesamtnationale Bewegung Ter Petrosjans von der historischen Bühne abgetreten sind und einem breiten, sich ständig durch Zerfall, Fusion und Neugründung verändernden Spektrum politischer Vereinigungen, Protoparteien und Parteien Platz gemacht haben, sind in Dagestan ethnische (Einheits-) Bewegungen noch immer die vorherrschende Organisationsform, und es nicht sehr wahrscheinlich, daß sich dies in überschaubarer Zeit ändern wird88.
Die Bewegungen sind in ihren Volksgruppen teilweise noch ohne oder zumindest ohne ernsthafte organisatorische Konkurrenz; teilweise existieren zwar mehrere Organisationen, die aber nicht unbedingt miteinander rivalisieren, vielmehr in einer von außen kaum zu durchschauenden Mischung aus Kooperation und Konkurrenz zueinander stehen.
Zu den frühesten Bewegungen gehört die “Awarische Volksbewegung” und die mit ihr verbundene Volksfront ‚Imam Schamil‘. Als Vereinigung radikaler islamischer Gemeinschaften existiert die “Union der Awarischen Dschama‘ate”. Hervorgetreten sind ferner die “Kumykische Volksbewegung ‚Tenglik‘”, der “Kumykische Nationalrat”, die “Lakische Volksbewegung ‚Kazi-Kumuch‘”, die “Darginische Nationalbewegung”, die “Lezgische Volksbewegung ‚Sadval‘” und der “Nationalrat des Lezgischen Volkes”; die Nationalbewegung der Nogaier “Birlik”. Bewegungen haben ebenfalls die kleineren Völker wie die Tabassaraner, Agulen, Rutuler hervorgebracht. Organisiert haben sich auch die Tschetschenen Dagestans im republikanischen “Rat der Akkiner-Tschetschenen”89.
Im Unterschied zu den in Dagestan registrierten politischen Parteien, die selbst dann, wenn es sich um Ableger der bekannten föderalen Parteiorganisationen handelt – mit Ausnahme der Kommunistischen Partei der Rußländischen Föderation (KPRF) – nur “auf dem Papier” bestehen, jedenfalls im politischen Leben des Landes keine nennenswerte Rolle spielen90, verfügen die nationalen Bewegungen über einen gewissen Rückhalt in ihren Volksgruppen, in welcher Stärke, läßt sich mangels verläßlicher Zahlen allerdings nicht sagen, zumal ihnen als “Bewegungen” eine förmliche Mitgliedschaft naturgemäß fremd ist.
Ihre politische Bedeutung beruht ohnehin nicht eigentlich, jedenfalls nicht unmittelbar, auf einer sich in beeindruckenden Zahlen ausdrückenden Massenbasis, über die wohl keine von ihnen verfügt, sondern auf anderen Faktoren: als erstes der Umstand, daß an ihrer Spitze eine Führerpersönlichkeit steht, die über Durchsetzungsvermögen gebietet, politische Erfahrung besitzt und eine Position in den zentralen Machtstrukturen der Republik inne hat, welche nicht nur den Zugang, sondern auch die Verfügungsgewalt über wirtschaftliche und finanzielle Ressourcen verschafft, welche den Aufbau eines sich “nach unten” hin kräftig verbreiternden Sockels von Klientelbeziehungen ermöglicht, die ihrerseits wiederum der Spitze dieser ethno-sozialen Pyramide, dem ‚Paten‘, eine feste personale Basis und verläßliche Stütze liefert.
In fast idealtypischer Weise verbinden sich diese Elemente in dem Führer der Awarischen Volksbewegung, Gatschi Machatschev, der einer der Bosse der Russländisch-Dagestanischen Ölbranche ist, ferner Vizepremier und – natürlich – Abgeordneter der Volksversammlung, letzteres, um – für alle Fälle – durch die parlamentarische Immunität gegenüber dem eventuellen Zugriff insbesondere der zentralen Staatsanwaltschaft in Moskau abgesichert zu sein91.
Kaum weniger prominent ist der Führer der Lakischen Volksbewegung, Magomed Chatschilaev. Er hatte seine wirtschaftliche Machtbasis in einer anderen lukrativen Branche, nämlich der kaspischen Fischindustrie, und zwar als stellvertretender Landwirtschaftsminister und Chef der Abteilung für Fischwirtschaft, welche Fang und Vermarktung der dagestanischen Stör- und Kaviarproduktion kontrolliert92. Faktischer Ko-Vorsitzender der Nationalbewegung ist Magomeds noch bekannterer Bruder, Nadirschach Chatschilaev. Er ist der Führer der “Union der Muslime Rußlands”93 und wurde 1996, mit Unterstützung von Ministerpräsident Tschernomyrdins damaliger Partei der Macht “Unser Haus Rußland” in die Staatsduma gewählt. Früher war er Karate-Champion, dann ein erfolgreicher Schriftsteller94!
In innerem, organischen Zusammenhang mit der Führerpersönlichkeit steht ein weiterer, gerade im heutigen Dagestan kaum zu überschätzender Vorteil der Volksbewegungen: sie stellen in ihren organisatorischen Kernen ethnisch homogene paramilitärische Verbände dar, die sich vor allem aus dem großen Heer arbeitsloser junger Männer rekrutieren und ihnen eine sinnhafte Aufgabe geben95. Die Moral dieser “Kämpfer” (russisch: boeviki) und nicht selten auch ihre Bewaffnung ist der der staatlichen Miliz zumeist überlegen. In dieser Republik, deren Bewohner sich schon aus traditioneller Einstellung bewaffnen, die heute aber, nach der legal-illegalen kommerziellen Auflösung zahlloser sowjetischen Waffenarsenale und erst recht als Auswirkung des Tschetschenien-Krieges nach Einschätzung der Dagestani selbst96 bis an die Zähne bewaffnet sind, können die Kämpfer der Volksgruppen je nach Anlaß durch den Zustrom weiterer beschäftigungsloser, sympathisierender Landsleute rasch zu ansehnlicher Stärke anwachsen.
Schließlich sind die Volksbewegungen auch deswegen nützlich, weil ihrem Namen ein nationaler Repräsentationsanspruch anhaftet, der zu Zeiten gesteigerter, nervöser ethno-politischer Empfindlichkeit und Verletzbarkeit wie den heutigen die realen Chancen erhöht, erfolgreich an die nationale Gruppensolidarität zu appellieren und die Landsleute für die verkündeten politischen Losungen zu mobilisieren.
Alles zusammengenommen sind die Volksbewegungen für ihre Führer eine wichtige gesellschaftliche und politische Machtbasis, über die sie in der Regel ganz persönlich gebieten (können) und die ihrem Auftreten und Anspruch im interethnischen Machtpoker an der Republikspitze Gewicht verleiht.
Das Auseinanderdriften der Volksgruppen hat auch die religiöse Ebene erfaßt: Es sind “nationale Kaziate”, also islamische Verwaltungen mit (Schariat-)Recht-sprechungsfunktion entstanden, die der aus Sowjetzeiten überkommenen, aber auch von der heutigen Republikführung gestützten “Geistlichen Verwaltung der Muslime” in Bujnaksk den Rang streitig machen97.
Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß die Einführung der neuen Paßformulare der Föderation ohne die im UdSSR-Paß enthaltene berühmt-berüchtigte “Fünfte Rubrik” (pjatyj punkt) für die Nationalität nicht nur bei den Titularnationen der nichtrussischen Republiken wie Tatarstan oder Baschkortostan auf Ablehnung stieß, sondern auch in Dagestan, wobei hier Widerstand auch von den kleineren Volksgruppen zu kommen scheint. Die Republikführung erklärte daraufhin, sich für die Beibehaltung des Nationalitätenvermerks einsetzen zu wollen98.
Von der Bedeutung und der Schlagkraft der ethnischen Kampfverbände konnte sich alle Welt im Mai 1998 überzeugen99: Als Milizionäre in der Hauptstadt Machatschkala das Haus des Führers der Union der Muslime Rußlands, Nadirschach Chatschilaev, umstellten, um dort angeblich verschanzte Verdächtige festzunehmen, strömten hunderte sowohl seiner bewaffneten Parteigänger als auch die seines Bruders Magomed, des Führers der Lakischen Volksbewegung, zusammen, um den Chatschilaevs zu Hilfe zu eilen. Von ihnen dann angeführt, nutzten die boeviki die Abwesenheit des Staatsratsvorsitzenden Magomedali in Moskau, besetzten das Stadtzentrum, stürmten die Regierungsgebäude und hißten auf dem Dach des Staatsrats das grüne Banner des Propheten100.
Die Vorgänge zeigten einerseits, wie gefährlich eine so verhältnismäßig kleine nationale Bewegung wie die der Laken bei entschlossener und über Autorität verfügender Führung im heutigen Dagestan ist bzw. sein kann, andererseits, wie labil die innenpolitische Lage Dagestans ist, wie wenig gesichert und wie verwundbar die zentralen Staatsorgane der Republik sind. Sie zeigen ferner, daß öffentliche Beschwörungen ethno-nationaler Verständigung und Eintracht sowie die Verabschiedung darauf gerichteter Deklarationen von zweifelhaftem Wert sind, denn der “Chatschilaev-Putsch” fand statt, unmittelbar nachdem auf Druck der Republikführung unter Federführung des Ministers für die Angelegenheiten der Nationalitäten und Auswärtige Beziehungen, Gusaev, sämtliche Führer der Volksbewegungen und politischen Parteien eine gemeinsame Erklärung herausgebracht und sich darin unmißverständlich von der Organisation “Kampf der Völker Tschetscheniens und Dagestans” distanziert hatten, die von dem tschetschenischen Führer, Schamil‘ Basaev, geleitet und auch aus Dagestan unterstützt wird. Die Erklärung hatte auch Nadirschach Chatschilaev für seine islamische Partei unterzeichnet101.
Die weitere Behandlung der Brüder Chatschilaev unterstreicht die politisch-administrative Schwäche der Staatsführung: Unter dem Druck der Gewehre und um die durchaus absehbaren Folgen einer militärischen Machtproble im Herzen Macha…kalas abzuwenden, ließ man die “Putschisten” abziehen. NadirÓach entwich nach Tschetschenien, kehrte später aber zurück; Magomed wurde zwar verhaftet, jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt. Die gegen beide von der föderalen Staatsanwaltschaft angestrengten Verfahren gingen aufgrund durchsichtiger Verfahrensmanöver ergebnislos aus. Letztlich wagte man nicht ernstlich die Brüder Chatschilaev anzutasten, zum einen weil man ihren Rückhalt in der lakischen Volksgruppe fürchten mußte, zum anderen weil man ihre ausgezeichneten Beziehungen nach Tschetschenien und ihre erfolgreichen Vermittlungsdienste zur Befreiung prominenter Geiseln weiterhin nutzen, diesen “Kanal” nicht preisgeben wollte102.
Die grundsätzliche Bewertung der Volksgruppen auf seiten der Staatsführung Dagestans hat sich unter dem Eindruck dieses putschähnlichen Handstreiches grundlegend gewandelt103. Während der Staatsratsvorsitzende Magomedali noch 1997 ihre positive Rolle bei der Lösung nicht nur sozio-ökonomischer und kultureller Fragen, sondern auch auf dem Gebiet der interethnischen Beziehungen hervorgehoben hatte104, versprach er unmittelbar nach jenem Ereignis, für die Auflösung der Bewegungen zu sorgen, und stellte fest, “daß sie sich überlebt hätten”. Magomedali ist natürlich sehr wohl bewußt, daß es nicht nur rechtlich problematisch, sondern vor allem politisch in höchstem Grade gefährlich für die innere Stabilität Dagestans wäre, wenn er versuchen wollte, seine Ankündigung unter Umständen gewaltsam durchzusetzen. So beschränkt er sich denn auch darauf, die Bewegungen zu ihrer “Selbstauflösung” aufzurufen, und ihnen im übrigen zwar unmißverständlich, aber eher vorsichtig-moderat die Legitimität und Seriosität abzusprechen. Doch Magomedali weiß, daß die Volksbewegungen längst unverzichtbare Instrumente der diversen, im wesentlichen ethnisch gestützte Clanführer Dagestans sind, von denen auch seine Machtstellung bis zu einem gewissen Grade abhängt. Die schwache Reaktion auf den “Chatschilaev-Putsch” unterstreicht das noch.
2. ‚Autonomisierung‘ Dagestans?
Hinter der aktuellen Polemik um die Rolle der Volksbewegungen stehen längst grundsätzlichere, konzeptionelle Auseinandersetzungen um den inneren Staatsaufbau der Republik und die Sicherung ihrer Einheit. Dabei rivalisieren sehr verschiedene Vorstellungen miteinander, die teils unitarischen, teils eher föderalistischen Charakter haben105. Eine Richtung möchte jenseits bzw. ‚oberhalb‘ der Volksgruppen “die Dagestaner” als Nation, als Volk im politischen Sinne, mit dem Bewußtsein einer historisch gewachsenen Zusammengehörigkeit etablieren und entschlossen darauf hinarbeiten. In der kommunistisch geprägten alten Nomenklatura dürfte diese Idee den stärksten Rückhalt haben.
Eine andere Position hat Ramazan Abdulatipov zu erkennen gegeben, indem er die Einheit Dagestans in besonderer Weise durch “die staatsbildende Kraft des awarischen Volkes” bestimmt sieht. Die Gleichsetzung des Schicksals der Republik mit dem ihrer größten Volksgruppen dürfte für deren Vertreter generell typisch sein.
Während die Bewegungen der drei großen in der Republik führenden Volksgruppen, der Awaren, Darginer und Kumyken, daher zumindest im Prinzip mit ihrer Rolle zufrieden zu sein scheinen, hört man vor allem aus den kleineren Volksgruppen Stimmen, die an den Formen, in welchen die Volksgruppen in der Staatsorganisation Dagestans Berücksichtigung finden und an den Staatsgeschäften beteiligt sind, massive Kritik üben. Dabei stehen sich zwei Extrempositionen gegenüber. Die eine kommt von Nadirschach Chatschilaev – also aus dem Führungskreis der Laken, die andere aus der Volksgruppe der Lezgier; erstere ist radikal unitarisch, letztere föderalistisch.
Nadirschach Chatschilaev tritt offen für politische Strukturen, etwa einen “Staatspräsidenten”, ein, die von der Einheit und soziopolitischen Homogenität Dagestans ausgehen106: “Wir Dagestaner haben es satt, nach nationalen Quartieren eingeteilt zu werden. Unsere Völker streben zur gesamtdagestanischen Einigung. Wenn vor mehreren Jahren jeder bereit war, seine Stimme nur dem Vertreter seiner Nation zu geben (egal, was für ein moralisches-sittliches Verhalten er an den Tag legte), so kennen die Dagestaner heute jeden genau und sind bereit, auch für die Vertreter anderer Völker zu stimmen, sofern sie nur ihr Vertrauen haben.” Für den Chef einer islamischen Partei ist diese Position konsequent, da sie ja gerade die Bürger unabhängig von der Nationalität zusammenfaßt.
Muchammed-Arif Sadyki107, ein zur Volksgruppe der Lezgier gehörender Politologe, unterstreicht – dem gerade entgegengesetzt – die aus der ethnischen Vielfalt und Inhomogenität Dagestans fließende Schwierigkeit, das politische System auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts nach dem Mehrheitsprinzip zu organisieren, und zugleich die Notwendigkeit, über die Volksbewegungen wegen ihrer demokratisch nicht vollwertigen Legitimation hinauszugehen und den indigenen Völkern Dagestans “auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts” dort, wo sie kompakt wohnen, Territorialautonomie, ihnen im übrigen aber, wo sie zerstreut oder in Gemengelage leben, ergänzend Personal- bzw. Kulturautonomie einzuräumen. Hinter diesen Vorstellungen und Forderungen steht die gerade von Vertretern der kleineren Volksgruppen häufig ausgesprochene Erfahrung, daß Dagestan ethnisch gesehen “seit den 30er Jahren”108 ununterbrochen von einer Koalition der drei größten Volksgruppen – Awaren, Darginern und Kumyken – regiert werde; die Interessen der anderen, von ihnen majorisierten Ethnien seien dabei laufend vernachlässigt oder völlig ignoriert worden. Dem könne nur mit dem Modell der Autonomie abgeholfen werden.
Der Minister Dagestans für die Angelegenheiten der Nationalitäten und Auswärtige Beziehungen, Magomedsalich Gusaev, hat solche Vorschläge als Weg hin zur “Jugoslawisierung” oder “Libanonisierung” der Republik bezeichnet; die Probleme des Landes würden dadurch nicht gelöst, vielmehr werde man den ‚Kampf um den Boden‘ nur in anderem Rahmen, aber wohl mit noch größerer Schärfe fortsetzen109. Gusaev steht denn auch für eine andere und vermutlich die Hauptrichtung unter den kleinen Nationalitäten: Von Nationalität Aguler, einer etwas über 1 % der Bevölkerung zählenden Volksgruppe, vertritt er mit aller Entschiedenheit das herkömmliche dagestanische Modell der ethnischen Konkordanzherrschaft, das – quantitativ und qualitativ natürlich abgestuft – auch den Vertretern der kleinen und kleinsten Nationalitäten einen Anteil an der republikanischen Staatsführung sichert. Die Karriere Gusaevs selbst bzw. die Tatsache, daß er als Vertreter einer Mini-Volksgruppe ein so bedeutsames Ressort erhielt, spiegelt für sich gesehen bereits die Fortführung einer auf dem Gebiet der Nationalitätenpolitik beachteten Regel sowjetischer Nationalitätenpolitik wider – die eher überproportionale Berücksichtigung der “Nacmen”, d.h. im dagestanischen Kontext der kleineren Volksgruppen.
Es spricht daher, nicht zuletzt wegen der während der Sowjetepoche angewachsenen interethnischen Durchmischung vor allem der Tal- und Küstenzonen des Landes, wenig für das Konzept der Autonomisierung. Gewisse begrenzte, von ihr erst erhoffte Vorteile werden im übrigen, wie es scheint, schon seit längerem durch Eigenheiten der territorialen Verwaltungsgliederung Dagestans bewirkt. Es verdient nämlich Beachtung, daß mit dem Übergang zur Rayon-Einteilung Dagestans im November 1928 zumindest teilweise der Ansatz verfolgt wurde, die ethno-territoriale Siedlungsstruktur gerade der kleineren Volksgruppen in den Rayons wiederkehren zu lassen110. So besitzen, mit ethnischer Titularbezeichnung, folgende Volksgruppen im Bereich ihrer kompakten historischen Siedlungsräume “eigene” Verwaltungsbezirke: die Aguler, Laken, Nogaier, Rutuler und Tabassaraner111. Diese Rayons sind heute ethnisch relativ homogen, am meisten der der Nogaier im Norden (80 %), der Aguler (ca. 70 %) und der Tabasaraner im Süden (ca. 67 %), der Rutuler im Südwesten (ca. 60 %, bei 40 % Zachuren)112. Ihre ethno-politische Bedeutung ist allerdings schwer einzuschätzen; sie dürfte eher begrenzt sein; sie wäre höher oder würde steigen, wenn die (auch) von der Verfassung Dagestans anerkannte kommunale Selbstverwaltung (Art. 123-125) lebendige Wirklichkeit würde. Clanstrukturen, fehlende Finanzmittel und administrative Unerfahrenheit stehen dem einstweilen entgegen113. Tatsache ist allerdings, daß sich die Angehörigen der kleineren Volksgruppen bei Wahlen stark an dem ethnischen Kriterium orientieren, während bei den Awaren die ethnische Solidarität eher schwächer ausgeprägt sein soll114. Man gewinnt den Eindruck, daß die Forderung nach “Autonomisierung” Dagestans in spezifischer Weise aus der Interessenlage der Lezgier im Süden des Landes geboren wurde und in erster Linie von dieser Volksgruppe vertreten wird. Zugleich kann man freilich nicht übersehen, daß die Forderung nach einer Aufgliederung Dagestans in ethnische Territorialautonomien selbst in Dagestan einen Trend widerspiegelt, der schon seit längerem, beschleunigt aber seit dem Untergang der UdSSR, im gesamten Kaukasus wirksam ist, und den man auf die Formel bringen kann ‚jedem Volk, jeder Volksgruppe ein eigenes, ihm/ihr ausschließlich zustehendes Staats- oder wenigsten Verwaltungsgebiet‘. Dem Kaukasus war dieses Prinzip bislang immer fremd gewesen, doch setzt es sich, wie Alexander Iskanderjan zutreffend erkannt hat115, auch hier – teilweise aber auch durch schleichende Verdrängung und Migration durch. Es ist dies eine Entwicklung, die Dagestan in ein Dilemma stürzt und seine Existenz bedroht.
3. Die Lezgier-Irridenta
Bei der lezgischen Volksgruppe handelt es sich um einen weiteren, völlig eigenständigen Herd politischer Spannungen, ständiger Unruhe und bewaffneter Konflikte. Zum Problem wurde die Lage der Lezgier im Übergang zu den 90er Jahren durch zwei gegenläufige Vorgänge: Im Prinzip nicht anders als die anderen Völker der UdSSR auch erlebten die Lezgier während der Perestrojka eine rasche Politisierung, die in der Schlußphase der Sowjetunion zur Organisation der Volksgruppe im Maßstab der gesamten UdSSR und zur Bildung einer Bewegung führte, die auf ihrem Kongreß im September 1991 als Ziel “die Wiedervereinigung zu einem einheitlichen nationalstaatlichen Gebilde mit friedlichen, parlamentarischen Mitteln unter der Bezeichnung Lezgistan” verkündete116. Alle weiteren Kongresse haben diese Forderung seither bestätigt.
Definitiv steht ihr entgegen, daß die Grenze zwischen Dagestan und Azerbajdschan das geschlossene Siedlungsgebiet der Lezgier117 zerschneidet118, daß die südlich des Flusses Samur, in den einstigen Khanaten Kuba und Scheki (Nucha) lebenden lezgischen Stämme heute in der Republik Azerbajdschan über keinerlei Statusrechte verfügen und daß die zur Sowjetzeit vorhandene republiksüberschreitende Freizügigkeit der Lezgier wegen der Verwandlung der Südgrenze Dagestans in eine Staatsgrenze mit Völkerrechtsstatus samt dem eingeführten Grenzkontrollregime von beiden Seiten her beseitigt wurde. Durch die Einführung des lateinischen Alphabets in Azerbajdñan, die Beibehaltung des Kyrillischen in Dagestan vertieft sich nun auch die kulturelle Trennung der Volksgruppe119.
Die “Grenzpolitik”der Verantwortlichen in Moskau und Machatschkala hat auf die Freizügigkeitsbedürfnisse der Lezgier sehr schwankend und insgesamt wenig Rücksicht genommen. Im Verlauf des Tschetschenien-Krieges (1995/96) wurde die Grenze zu Azerbajdschan dann überhaupt geschlossen; danach hat sich die Lage nur begrenzt verbessert120. Die Hauptbrocken, an denen die Lezgier Anstoß nehmen, sind die rigiden Grenzkontrollen, schleppende Abfertigung, horrende Kontrollgebühren, verschärft durch räuberische Schmiergeldforderungen, ferner die Dichte militärischer Kontrollposten bei gleichzeitig schwach wirksamer Abwehr von bewaffneten Anschlägen und räuberischen Überfällen, die Einrichtung einer 5-km-Grenzzone mit abschreckendem Sonderregime und entsprechend einschneidenden Freizügigkeitsverlusten der grenznah siedelnden Familien.
Zwar hat man höherenorts Anstalten gemacht, den Lezgiern etwas entgegenzukommen121, das Grenzregime erleichtert und die Entscheidung über die 5-km-Zone suspendiert, auch ist die Errichtung einer wirtschaftlichen Sonderzone im Gespräch, aber die tatsächlichen Veränderungen sind dürftig, die Frustration der Lezgier anhaltend hoch. Dies ist kein Zufall, sondern beruht darauf, daß sich zusammen mit dem Aufbau der Grenzkontrolleinrichtungen in den beteiligten republikanischen dagestanischen und föderalen Behörden – Grenzdienst, Innenministerium, Streitkräfte, Zollverwaltung – “Seilschaften”, “Ringe”, kurz: kriminelle, parasitäre Gruppen gebildet haben, die im Grenzregime beträchtliche Finanzmittel für sich “erwirtschaften” und an einer durchgreifenden Liberalisierung gar nicht interessiert sind122. Es handelt sich zugleich um einen Ausschnitt aus dem generellen Problem einer “Teilprivatisierung” zahlreicher Grenzübergänge, insbesondere im Süden der Rußländischen Föderation, die zu einem dramatischen Verlust der föderalen Kontrollmechanismen geführt hat123.
Ein strategisch-machtpolitischer Gesichtspunkt kommt hinzu: Sowohl die föderale Regierung in Moskau als auch die heute in Machatschkala an der Macht befindliche ethno-oligarchische Führungsclique möchte, wie erst recht natürlich Azerbajdñan124, die lezgische Volksgruppe gespalten halten: Baku, weil ein vereinigtes Lezgistan, wie die Führer der Volksbewegung Sadval es vertreten, aus Azerbajdschan ausscheiden soll, Moskau, weil ein ein vereinigtes Lezgistan ein unkalkulierbarer, unbeherrschbarer Konfliktherd im Südkaukasus wäre, Machatschkala, weil die Lezgier im Falle ihrer territorialen Vereinigung mit dann knapp 500 000 Menschen fast so stark wären wie die Awaren und damit die traditionelle ethno-politische Struktur Dagestans grundlegend verändern würden. Die Autonomisierung Dagestans würde die wohl unvermeidliche Folge sein, und sie würde dann vermutlich in den Zerfall Dagestans überhaupt einmünden – mit unabsehbaren Auswirkungen auf die Stabilität in der Region insgesamt.
Wie brisant die Situation im Süden Dagestans ist, wurde im Juli 1999 erneut offenbar, als Aktivisten der Lezgischen Volksbewegung ‚Sadval‘ die (wegen ihrer Einträglichkeit sogenannte) “Goldene Brücke” an der Grenze zu Azerbajdschan besetzten, um gegen die Verhaftung ihres Führers Nasyr Primov zu protestieren125.
III. Konflikteindämmende, stabilisierende, konsensstärkende Faktoren
a. Ethnische Konkordanzoligarchie
Infolge des oben dargelegten Wegfalls der im Sowjetsystem stabilisierenden Faktoren ist Dagestan heute weitgehend auf sich selbst zurückgeworfen, was seine sich neu formierende politische Elite in die schwierige, völlig neue, ungewohnte Lage bringt, nunmehr aus eigener Kraft die Wege und Kompromisse zu finden, welche erforderlich sind, um insbesondere einen Ausgleich zumindest zwischen den wichtigsten Volksgruppen, Nationalitäten und Ethnien der Republik und zwischen ihren Regionen herzustellen.
Im Bewußtsein der tödlichen Gefahr für den inneren Frieden und die territoriale Einheit der Republik hat sich die gegenüber der Sowjetzeit strukturell zwar nur begrenzt veränderte, ethno-politisch aber zunehmend heterogener werdende politische Elite Dagestans für die prinzipielle Fortführung des unter dem Sowjetsystem beachteten ethnischen Proporzes entschieden, und zwar in beiden schon bisher praktizierten Hauptdimensionen: erstens hinsichtlich der Zusammensetzung des Parlaments; zweitens dadurch, daß bestimmte Volksgruppen bei der Besetzung gewisser staatlicher Ämter und Funktionsbereiche vorrangig Berücksichtigung finden.
Auf dieser Linie bestimmt die postsowjetische Verfassung vom 20.7.1994, daß “in der Volksversammlung die Vertretung aller Völker Dagestans garantiert” sei, nämlich durch die entsprechenden Regelungen des Wahlrechts (Art. 72 Abs. 2)126. Das Wahlrecht von 1994 bzw. das insofern unverändert gebliebene geltende von 1998 teilt die Wahlkreise für die 121 Mandate auf die 14 stärksten, staatsrechtlich anerkannten indigenen Volksgruppen im Verhältnis ihrer Stärke (Kopfzahl gemäß Volkszählung von 1989) zueinander auf, so daß auf die Awaren etwa ein gutes Viertel, die Darginer ein gutes Sechstel, die Kumyken ein Achtel, die Lezgier ca. ein Zehntel, die Russen ein Zwölftel, die Laken ein Zwanzigstel usw. entfallen127.
Noch radikaler, nämlich formal-paritätisch, ist der Volksgruppenschlüssel für die Besetzung des kollektiven Staatsoberhaupts und Spitzenorgans der Exekutive, des Staatsrats: er besteht aus 14 Mitgliedern, von jeder Volksgruppe ein Vertreter: Awaren, Agulen, Azeri, Darginer, Kumyken, Laken, Lezgier, Nogaier, Russen, Rutuler, Tabassaraner, Taten, Zachuren, Tschetschenen. Der Staatsrat wird von der Verfassungskonferenz gebildet, die aus ebenfalls nach ethnischem Proporz zusammengesetzten 242 Mitgliedern besteht128 und von der Volksversammlung einberufen wird. Kritiker weisen allerdings zu Recht auf die Tatsache hin, daß die Repräsentanz der Volksgruppen im Staatsrat nur äußerlicher Natur sei. Der Politologe Sadyki stellt fest129: “Sie (sc. die Völkervertreter) besitzen keine Legitimität in verfassungsmäßiger und juristischer Hinsicht, da sie nicht kraft einer Wahl durch ihr jeweiliges Volk im Wege freier Willensäußerung Vertreter sind, sondern kraft der Ernennung einfach nach nationaler Zugehörigkeit”.
Die tatsächliche politische Entwicklung der vergangenen fünf Jahre hat nun freilich gezeigt, daß die Funktionsleistung des Proporzsystems, nämlich einen fairen Ausgleich zwischen den Volksgruppen wenigstens annähernd herbeizuführen, zunehmend prekär wird und dementsprechend legitimatorisch geschwächt ist. Der Hauptgrund ist der, daß das Amt des Staatsratsvorsitzenden kraft der mit ihm verbundenen politischen Leistungs- und administrativen Entscheidungsbefugnisse die Kollegialität des Gremiums ausgehöhlt hat, daß ferner die vom Staatsrat gebildete und ihm gegenüber verantwortliche “Regierung” unter dem Premierminister daher in ihrer laufenden Arbeit stark vom Staatsratsvorsitzenden kontrolliert werden kann und auch wird, daß die vom Staatsratsvorsitzenden gesteuerte Exekutive, vor allem über die örtlichen Verwaltungschefs weitgehend die politische Zusammensetzung der Volksversammlung, also des Parlaments, beeinflussen kann und auch tatsächlich beeinflußt und daß schließlich der frühere Ministerpräsident und in der Perestrojka zum Staatsoberhaupt bzw. Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Autonomen Republik Dagestan aufgestiegene Magomedali Magomedov seine Machtstellung kraft seiner langjährigen Beherrschung des Apparats der Exekutive mit dem Wechsel in den Staatsratsvorsitz erfolgreich transformieren. Die maßgebliche Bestimmung der Zusammensetzung des Parlaments geschieht im Prinzip – wie schon zur Sowjetzeit – vor allem durch die Vereinbarkeit von Amt und Mandat: von den 121 Mitgliedern der Volksversammlung hatten 68 Mitglieder (1995–1999) zugleich Ämter in der Exekutive (staatliche Behörden und Staatsunternehmen) inne130.
Ungeachtet des ethnischen Proporzes hat Magomedov es verstanden, in der Volksversammlung einer klare Mehrheit seiner Anhänger sicherzustellen. Obwohl er als Darginer nur die zweitstärkste Volksgruppe repräsentiert und er 1994, bei der Konstituierung der neuen Verfassungsorgane, mit der Maßgabe einer alle zwei Jahre erfolgenden interethnischen Rotation des Staatsratsvorsitzes gewählt wurde, gelang es ihm 1996 unter Nutzung der durch den Tschetschenien-Krieg auch in Dagestan entstandenen komplizierten politischen Lage mit 176:61 Stimmen in der Verfassungsversammlung131 eine Amtsverlängerung um weitere zwei Jahre durchzusetzen, 1998 durch eine Änderung der Verfassung die Rotation überhaupt abzuschaffen und zugleich erneut zum Staatsratsvorsitzenden gewählt zu werden132.
Allerdings schafften es Magomedov und seine interethnisch zusammengesetzte Machtbasis der alten kommunistischen Nomenklatura nicht, den multinationalen Staatsrat durch ein monokratisches Staatsoberhaupt mit der Stellung eines Republikspräsidenten durchzusetzen. Nachdem und obwohl schon 1992 und 1993 die Bevölkerung in Referenden die Einfügung eines Präsidialsystems mit großer Mehrheit abgelehnt hatte, war Magomedov in dieser Frage äußerst vorsichtig geworden, trat für die Beibehaltung des “kollegialen Regierungssystems”, aber – nun scheinbar ganz objektiv-demokratisch – entschieden für die Abhaltung eines weiteren Referendums ein133. Die offen hervortretenden Befürworter erlitten 1998 bei diesem dritten Anlauf der Änderung des Regierungssystems im Referendum vom 7.3.1999 eine herbe Niederlage, als mit einer Dreiviertelmehrheit die Referendumsfrage zurückgewiesen wurde134. Nur in drei der 56 Wahlbezirke und zwar in den von den Awaren bewohnten Landesteilen wurde die Referendumsfrage mehrheitlich bejaht135.
Welche politischen Kräfte es waren, die nun unter der geltenden Verfassung und nach dem Ende des heißen Tschetschenien-Krieges diesen dritten, allgemein prognostizierten aussichtslosen Versuch machten, eine grundlegende Veränderung des Regierungs- bzw. politischen Systems Dagestans herbeizuführen, läßt sich in vollem Umfange nicht übersehen. Anscheinend kamen sie aus sehr verschiedenen, teilweise geradezu konträren politischen Lagern. Einer der Protagonisten war Ramazan Gadschimuradovitsch Abdulatipov, seit der “Perestrojka” Gorbatschows der prominenteste Dagestaner in der zentralen politischen Führung zunächst der UdSSR, dann der Rußländischen Föderation und zugleich der wohl profilierteste Nationalitätenpolitiker Rußlands, der heute die Position eines Stellvertretenden Ministerpräsidenten mit Zuständigkeit für die Nationalitäten- und Regionalpolitik inne hat136. Abdulatipov repräsentierte in dieser Verfassungsfrage Dagestans einen wohl nicht ganz unerheblichen Teil des awarischen Volkes137. Auch versuchte er, prominente Vertreter des politisch für eher gemäßigte Positionen bekannten sogenannten Volks- oder Traditionsislams für seine Position zu gewinnen.
Im Bündnis mit Abdulatipov traten auch der frühere Sekretär des Sicherheitsrates der Republik Dagestan, Magomed Tolboev138, der als ehemaliger Testpilot Rußlands und “Held” über beträchtliches Prestige in der Republik verfügt, und der Generaldirektor des Energiekonzerns Rosneft‘-Dagneft‘, Vorsitzender der Awarischen Volksfront “Imam Schamil”, Führer der von General Andrej Nikolaev gegründeten Partei “Volkspatriotische Union Rußlands”139, Gadschi Machatschev, auf140.
Für die Einführung des Präsidentenamtes sprachen sich auch die Brüder Mohammed und Nadirschach Chatschilaev aus, die zwar in der Volksgruppe der Laken beheimatet sind, aber vor allem als Führer starker, politisch orientierter und daher radikalerer Richtungen im Islam Dagestans von sich reden machen, dabei enge Beziehungen zur politischen Führung Tschetscheniens und zu anderen Regionen des Nordkaukasus unterhalten. Die entschiedensten Gegner der Verfassungsänderung waren und sind die Dagestanische Regionalorganisation der Kommunistischen Partei der Rußländischen Föderation (KPRF) und die kleineren Volkgruppen, namentlich die Lezgier141. Offenkundig fürchten sie, durch einen von den großen Volksgruppen gestellten “ethnokratischen” Präsidenten und die Verdrängung des paritätischen Staatsrates vollends bedeutungslos zu werden und auch noch das ihnen gewährte Minimum politischen Einflusses auf die Führung des Landes zu verlieren.
Die Befürworter des Präsidialsystems knüpfen an dessen Wirkungen im Prinzip zwar die gleichen Hoffnungen, aber wohl eher mit entgegengesetzter politischer Tendenz: Beide Richtungen versprechen sich von dem Präsidentenamt, daß es ein starkes Gegengewicht gegenüber der ethnischen Fragmentierung ist, daß der Präsident als Chef der Exekutive und “Dompteur” der Volksvertretung den ethnischen, teilweise separatistisch geneigten Radikalismus zu isolieren und zugleich unter Kontrolle zu halten vermag, daß er gegenüber den föderalen Staatsorganen in Moskau und insbesondere den Wirtschaftsinstitutionen mit größerer Autorität und Durchschlagskraft die sozio-ökonomischen, fiskalischen und Haushaltsinteressen Dagestans vertreten, kurz: die ärmlich dahinvegetierende, von Zerfall, Krieg und Chaos bedrohte Republik kräftigen und zusammenhalten könne. Während aber Abdulatipov, nach seinem bisherigen politischen Kurs zu urteilen, für eine enge Anlehnung an Moskau eintreten und einer Lockerung der föderalen Bande entschieden entgegentreten würde, scheinen die Brüder Chatschilaev und die ihnen nahestehenden Gruppen eine politische bzw. territorial-administrative Neuordnung im Nordkaukasus mit einem konföderativen Verhältnis zu Rußland anzustreben, möglicherweise sogar die Bildung eines islamischen Staates unter Einschluß von Tschetschenien.
Ein weiteres Instrument der Konfliktverhütung und Konfliktberuhigung ist die traditionelle Praxis, wichtigere, vor allem mit politischer, administrativer, finanzieller und wirtschaftlicher Macht verbundene Posten in Staat und Wirtschaft unter den Volksgruppen auf zentraler, mittlerer und unterster Ebene aufzuteilen. So ist es eine gewisse Regel geworden, verantwortliche Stellen im Energiesektor bevorzugt Angehörigen der Awarischen Volksgruppe einzuräumen, Darginern hingegen im Finanzsektor. Allerdings verfährt man nach diesem Grundsatz vor allem zugunsten der drei größten Volksgruppen; die kleineren sind demgegenüber in den Führungspositionen der Staatsbürokratie (Ministerien, Staatskomittees usw.) und der Staatsunternehmen deutlich unterrepräsentiert, und auch hier fühlen sich namentlich die Lezgier am stärksten diskriminiert142. Im politischen Bereich der höheren und höchsten Staatsämter ist es zwar wegen der strukturellen und realpolitischen Instabilitäten der Republik, sofern überhaupt gewollt, nicht gelungen, eine wirklich funktionierende Rotation von Repräsentanten der 14 staatsrechtlich besonders anerkannten Volksgruppen zu erreichen; gleichwohl regiert auch in diesem Bereich das Prinzip der ethnischen Postenaufteilung: Während der Darginer Magomedov seit 1987 Staatsoberhaupt der Republik ist, zunächst (bis 1990) als Vorsitzender des Präsidiums, danach des Obersten Sowjets der Republik Dagestan selbst und seit 1994 als Vorsitzender des Staatsrates, ist der Aware Muchu Gumbatovitsch Aliev, 1990 noch Magomedovs Stellvertreter, seit 1994 an dessen Stelle Vorsitzender der Volksversammlung, also des Parlaments, und in dieser Position Inhaber des zweitmächtigsten Staatsamtes143. Das drittmächtigste Amt, das des Ministerpräsidenten, hatte seit 1987, auch insofern Nachfolger von Magomedov, der Kumyke Abdurazak Mirzabekov inne. Er wurde allerdings (unter anderem) wegen seiner Gegnerschaft zur Einführung der Präsidialverfassung 1997 auf Betreiben von Magomedov abgesetzt, indes – bezeichnenderweise – wieder durch einen Kumyken ersetzt, den bisherigen Chef des Rechnungshofes, Chizri Schichzaidov144.
Typische Verfahrensweisen der ethnopolitischen Konfliktregulierung zeigen sich ferner in folgenden Vorgängen: Als sich 1994 der bisherige Parlamentschef Magomedov bei der Wahl zum Vorsitzenden des Staatsrates gegen seinen stärksten Herausforderer, Magomed Tolboev, durchsetzte, drängte er ihn nicht ins politische Abseits, sondern machte ihn vielmehr zum Sekretär des Sicherheitsrates der Republik, von wo aus Tolboev 1996 eine Schlüsselrolle bei der Vermittlung der erfolgreichen Waffenstillstandsgespräche von Chasavjurt zur Beendigung des Tschetschenien-Krieges zwischen Aslan Maschadov und Aleksandr Lebed spielte. Oder: Als im August 1996 der Finanzminister und Darginer Gamid Gamidov ermordet wurde145 und es darüber zu Großdemonstrationen und Unruhen kam, die von seiner Familie und seinen Anhängern organisiert worden waren, entschärfte man die sich gefährlich zuspitzende Lage dadurch, daß der Staatsrat kurzerhand den Bruder Gamidovs zum Nachfolger ernannte!146.
Ein anderer Darginer, nämlich Said Amirov, wurde Oberbürgermeister der Hauptstadt Macha…kala, die eigentlich im Siedlungsraum der Kumyken liegt, die daher im Prinzip diese Position auch beanspruchen147. Daß seine Gegner allerdings nicht bereit waren, diese gewohnheitsrechtswidrige Entscheidung still hinzunehmen, beweist die Tatsache, daß auf Amirov zwischen 1996 und 1998 nicht weniger als zwölf bewaffnete Anschläge verübt wurden148. Amirov spielt eine führende Rolle im Verband der Lokalbehörden Dagestans und genießt zugleich die Unterstützung des Moskauer Stadtoberhaupts, Jurij Luschkov149.
Besonders ausgeprägt und zugleich dubios zeigt sich die Methode der Versorgung unzufriedener, aber über kräftige soziale Unterstützung verfügender Oppositioneller mit einflußreichen Posten und zugleich mit dem Ziel ihrer politischen Umpolung am Fall des Führers der Awarischen Volksfront ‚Imam Schamil‘, des Abgeordneten und Generaldirektors des staatlichen Monopolenergiekonzerns Rosneft‘-Dagneft‘, Gadschi Machatschev, der noch Ende 1997 öffentlich seine scharfe Ablehnung eines Präsidialsystems zu Protokoll gegeben hatte150, dann aber vom Staatsrat zum Stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt wurde, ohne sein Abgeordnetenmandat oder gar den Posten des Generaldirektors aufgeben zu müssen. Als er dann in der Präsidentenfrage eine scharfe Kehrtwende vollzog, wurden die politischen Zusammenhänge dieses Manövers offenkundig151.
So läßt sich erkennen, daß die Republik Dagestan von einer oligarchischen Gruppe aus Repräsentanten der drei wichtigsten Volksgruppen des Landes regiert wird, die – und das ist noch wichtiger – durch ihren Karriereverlauf und die langjährige Zusammenarbeit miteinander auch mehr oder weniger eng politisch verbunden sind, deren Kern aber aus dem “Duumvirat” aus Magomedov und Muchu Aliev besteht152.
Die Erkenntnis Kazbek Sultanovs, eines in der Staatsduma tätigen Dagestan-Experten153, daß die reale Struktur des politischen System der Republik von dem Neben-, Mit- und Gegeneinander rivalisierender ethnischer Clans beherrscht sei, daß die Führung des Landes sich bislang fast ausschießlich darauf konzentriert habe, diese Clan-Interessen durch Kompromisse, Koalitionen und Konsensfindung zu saturieren, ist denn auch alles andere als sensationell. Sultanov kommt allerdings zu einer negativen Bewertung, denn dieses System habe sich in eine Sackgasse manövriert und sei unproduktiv geworden, da die Strategie, sich über die – auch – personelle Stabilität des etablierten Machtkartells um jeden Preis an der Macht zu halten und parasitär die von ihr vermittelten materiellen Vorteile zu genießen, immer deutlicher im Widerspruch zu den sich dramatisch zuspitzenden sozio-ökonomischen Schwierigkeiten der Republik getreten sei, Widersprüche zwischen den Volksgruppen nicht verhindert, vielmehr verschärft und vertieft habe und daß die politische Führung wegen der Sterilität ihrer verbissenen Verteidigung des status quo den Kontakt zur Wirklichkeit verloren habe154.
Die Kritik von Sultanov erscheint auf den ersten Blick, jedenfalls vom Standpunkt einer modernen, rationalen, effektiven Staatlichkeit her überzeugend. Der Autor ignoriert jedoch die positiven Funktionsleistungen des Systems der ethnischen Konkordanzoligarichie für die innere Festigkeit und den Zusammenhalt der Republik, zumal unter ihren katastrophalen, notstandsähnlichen Lebensbedingungen. Er zieht in keiner Weise in Betracht, daß dieses System in der Geschichte Dagestans tief verwurzelt ist, daß es in modifizierter Form auch während der Sowjetepoche bestand und daß es daher gegenüber allen Alternativen wohl auf die breiteste Zustimmung und Unterstützung von seiten der multiethnischen Bevölkerung rechnen kann. Sultanovs und anderer Kritik kann freilich als ein Indiz dafür gelten, daß der teils aus Überzeugung, teils aus Gewohnheit und Quietismus gespeiste Konsens schwächer wird und von verschiedenen Seiten, teils nationalistischen, teils auch radikalen islamischen Positionen her unter Druck gerät. Einstweilen hält das System dem Veränderungsdruck noch stand. Einer der Hauptgründe für seine Widerstandsfähigkeit dürfte die Tatsache sein, daß Dagestan in bruchloser Kontinuität im wesentlichen noch immer von einer säkular sowjetisch-kommunistischen sozialisierten Nomenklatura beherrscht wird, die kraft ihrer übernationalen, gesamtstaatlich-sowjetischen Prägung Nationalismus und religiöser Eiferei innerlich fremd gegenübersteht, insofern politisch eher gemäßigte Positionen einnimmt und sich mit der interethnischen Kompromißfindung leichter tut. Was seine Kritiker ihm ankreiden, das macht daher gerade die Stärke dieses Systems aus, nämlich seine überethnische Integrationsfähigkeit und seine Fähigkeit zur Eindämmung und Neutralisierung von sozio-ethnischen Konflikten.
b. Sonstige Stabilisierungsfaktoren
Zu den Faktoren, die die politischen und sozio-ökonomischen Konfliktursachen abmildern, zählt ferner der Lebensstil der Bewohner Dagestans, der hohe Grad an Gemeinsamkeit ihrer Alltagskultur, der ungeschriebenen Sitten und gelebten Gewohnheiten. Sie wurzeln teilweise sehr tief in den autochtonen, ‚kaukasischen‘ Traditionen der Gebirgler, teilweise in den (Volks-)islamischen Traditionen des Landes, teils in übernommenen Eigenarten der russisch-sowjetischen Lebensweise und Alltagskultur. Diese sozio-kulturellen, gerade auch die Mentalität der Menschen prägenden Gemeinsamkeiten, überlagern ihr jeweiliges ethnisch-nationales Sonderbewußtsein und stellen daher eine gewisse, durchaus auch politisch relevante Ressource für die Sicherung eines interethnischen Ausgleichs und des zivilen Friedens in Dagestan dar.
Ein weiterer, eng damit verbundener Faktor tritt hinzu, nämlich die für die Bewohner Dagestans, besonders ihren im Gebirge lebenden Teil charakteristische Subsistenzwirtschaft, die Ernährung von dem, was man auf dem kleinen Stück bebaubaren Bodens erwirtschaftet. Die aufgrund der ungünstigen Bodenverhältnisse schon immer kärglichen Lebensbedingungen erleichtern es den Bewohnern Dagestans, unter den heutigen besonders schwierigen Umständen einer weitgehend zusammengebrochenen Industrie die auch während der Sowjetepoche immer lebendig gebliebenen Formen der agrarischen Nebenwirtschaft für sich im Rahmen und zugunsten von Familie und Sippe maximal zu nutzen und so das Überleben zu sichern. Traditional anerzogene Genügsamkeit der Gebirgler, aber auch die Anspruchslosigkeit des von laufenden Versorgungskrisen heimgesuchten “Sowjetmenschen” liefern die nötigen psychischen Voraussetzungen für die Bereitschaft, sich in die heute von Not und Knappheit gekennzeichneten Verhältnisse zu schicken.
IV. Schluß: Zur Rolle des föderalen Zentrums
Der politische Kurs, den das föderale Zentrum, ‚Moskau‘ heute gegenüber der Republik Dagestan steuert und die Rolle, die es in Dagestan spielt, sind teils blass, verschwommen und undeutlich, teils widersprüchlich und unbeständig. Zu einem Teil liegt dies in der Eigenart der Region selbst begründet. Denn natürlich läßt sich Dagestan, das hat die Studie in beinahe jeder Hinsicht bestätigt, nicht isoliert betrachten; die Republik hat teil an den ethno-politischen Konflikten, sozio-ökonomischen Schwierigkeiten und kulturellen Veränderungsprozesse nicht allein des “rußländischen” Nordkaukasus, sondern der politischen Erdebebenzone des Kaukasus insgesamt als eines der geopolitischen Knotenpunkte im postsowjetischen Raum. Angesichts der hohen innenpolitischen Instabilität der drei transkaukasischen Republiken, der vielen ungelösten ethno-territorialen Konflikte auf ihren Territorien, angesichts der Unsicherheiten und der Zerstrittenheit der wichtigsten politischen Gruppen und Hauptakteure in Moskau über den Ort und den Weg Rußlands in der sich nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes neu ordnenden Welt im allgemeinen und über die politischen Interessen Rußlands in der Kaukasus-Region im besonderen, kann man schwerlich bereits eine gut begründete, in sich stimmige, operativ überzeugende politische Konzeption für die Region erwarten155.
Allerdings formuliert die Nationale Sicherheitskonzeption der Rußländischen Föderation vom 17.12.1997156im Hinblick auf die Kaukasus-Region gewisse politische, ökonomische und militärische Interessen, wie die Sicherung des inneren Friedens, Stabilität der Staatsgewalt, Durchsetzung des Rechts, Erhaltung des einheitlichen Wirtschafts- und Rechtsraumes, Bekämpfung von Separatismus, Sicherung der Transportkorridore für Gas und Öl, Sicherung der Staatsgrenzen, Abwehr pantürkischer Bestrebungen, Fernhaltung von USA und NATO aus der Region, Einsatz von friedenssichernden Militärkräften im internationalen Auftrag zur Regelung der Konflikte usw. Es ist jedoch bis heute unklar geblieben, auf welchen Wegen die in ihrer abstrakten Höhe formulierten Ziele auch tatsächlich erreicht werden sollen. Diese Lücke soll erklärtermaßen die “Konzeption der Staatspolitik der Rußländischen Föderation im Nordkaukasus” schließen. An ihr wird schon seit längerem gearbeitet, aber ihre Verabschiedung mußte immer wieder hinausgeschoben werden, weil die politischen Vorstellungen der Akteure schon im Grundsätzlichen teilweise weit auseinandergehen. Immerhin war man im März 1999 soweit, einen Entwurf fertigzustellen und der föderalen Regierung zur Verabschiedung zuzuleiten157. Unabhängig von ihrem Inhalt läßt sich aber feststellen, daß Dagestan weiter zu den “Schlußlichtern” derjenigen Regionen Rußlands zählen wird, die zum Kreis der Subventionsempfänger zählen, aber wegen der “Dauerebbe” im föderalen Haushalt auch weiterhin weitgehend leer ausgehen wird.
Die Zurücksetzung Dagestans durch das “Zentrum” zeigt sich auch auf engerem politischen Gebiet, nämlich bei den Wahlen zur Staatsduma. Obwohl Dagestan kraft seiner Einwohnerzahl fast die Gruppe der Subjekte der Föderation erreicht, denen vier Direktmandate (von 225) zustehen, so daß die Republik jedenfalls aber drei Direktmandate haben müßte, ist es bei den Subjekten eingeordnet, die bei einer Einwohnerzahl zwischen 1 Million (Gebiet Murmansk) und 1,6 Millionen (Gebiet Leningrad) mit zwei Direktmandaten in der Staatsduma vertreten sind, ein Fall eindeutiger Verletzung des Prinzips der Wahlrechtsgleichheit158.
Das politische Verhältnis Moskaus zu Dagestan steht völlig im Schatten des Tschetschenien-Konfliktes und der Frage nach einer der abtrünnigen Republik gegenüber anzuwendenden Strategie. Sie ist deswegen so schwierig, weil sie nicht nur auf den ganzen Nordkaukasus ausstrahlt, sondern die Integrität Rußlands als Föderation insgesamt und prinzipiell betrifft, und so schwankt Moskau gefühlsmäßig bei der Auseinandersetzung darüber zwischen der trotzigen Entschlossenheit, den territorialen Bestand Rußlands zu bewahren und dem Überdruß an einer Republik mit einem Volk, das man “wie eine Krebsgeschwulst am Körper Rußlands” (Vladimir Schirinovskij) empfindet.
Das von General Lebed und Aslan Machadov vereinbarte Abkommen von Chasavjurt (30.8.1996) sieht – ebenso wie der am 12.5.1997 von den Staatspräsidenten Jelzin und Maschadov abgeschlossene “Friedensvertrag” – nur eine Interimslösung vor, mit der Maßgabe, bis zum 31.12.2001 ein Abkommen über die Grundlagen der beiderseitigen Beziehungen abzuschließen, das “auf den allgemein anerkannten Normen des Völkerrechts beruht”. Die Vorstellungen über Charakter und Inhalt dieses Grundlagenvertrages gingen zunächst weit auseinander: Während Moskau nur ein Kompetenzabgrenzungsvertrag ähnlich dem mit der Republik Tatarstan vom 15.2.1994 vorschwebte, konzipierte Tschetschenien einen Vertrag über gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit zwischen der Tschetschenischen Republik Itschkerja und der Rußländischen Föderation “rein völkerrechtlichen Charakters”, ohne irgendwelche Elemente staatsrechtlicher Einordnung159.
Die föderale Regierung klammert die Statusfrage einstweilen weiter aus. Der im März 1999 festgestellte Entwurf einer Konzeption der nationalen Politik Rußlands für den Nordkaukasus schiebt jedenfalls das Problem erklärtermaßen auf die Ebene einer sozio-ökonomischen Entwicklungsstrategie bzw. eines darauf bezogenen Interessenausgleichs. Inzwischen mehren sich allerdings die Anzeichen für eine Stärkung der Position, welche in einer Legalisierung der Abspaltung unter Anerkennung Tschetscheniens eher eine Stärkung Rußlands sehen160.
Über den Umgang mit Tschetschenien in der Zwischenzeit besteht keine Einigkeit. Während die föderalen Sicherheitskräfte, namentlich das Innenministerium, die terroristischen Übergriffe tschetschenischer Kommandos auf die Nachbarregionen mit harten Maßnahmen beantworten wollen und “Punktschläge”, die Schließung der Grenzen zu Tschetschenien, eine Blockade der Republik, unter Umständen sogar die Verhängung des Ausnahmezustandes über den ganzen Nordkaukasus erwägen, sind sich Dagestans Staatsratsvorsitzender Magomedali und sämtliche Präsidenten der nordkaukasischen Republiken darin einig, daß es in der Region keine weitere Gewaltanwendung geben dürfe161.
Eine eigenartige Position nimmt Ramazan ChadschibulatovitschAbdulatipov ein, seiner Nationalität nach ein Aware und seit der Perestrojka Gorbatschevs prominentester Dagestaner in der Moskauer Staatsführung, der heute als stellvertretender Ministerpräsident Rußlands zu den Hauptakteuren in der Nordkaukasuspolitik überhaupt zählt und kraft seiner Herkunft eine besondere Zuständigkeit auf föderaler Ebene, wie es scheint, informell für Dagestan besitzt162. Teils gestützt auf die awarische Volksbewegung, teils aufgrund einer politischen Absprache mit dem Staatsratsvorsitzenden Magomedali setzte sich Abdulatipov bei den Wahlen vom Dezember 1995 zur Staatsduma im Kampf um eines der beiden Dagestan zustehenden Direktmandate im Wahlkreis 10 (Bujnaksk) durch163.
Allerdings ist Abdulatipov seit dem Ende des Tschetschenien-Krieges öffentlich als entschiedener Verfechter harter, Gewaltanwendung, Blockade und Ausnahmezustand einschließender Maßnahmen gegen Tschetschenien und darüber hinaus als Anhänger eines strengen Grenzregimes in Dagestan vor allem zu Azerbajdschan hervorgetreten164. Vom Boden der von ihm seit Jahren in vielen Artikeln, Interviews und öffentlichen Auftritten vertretenen Konzeption des Föderalismus und der Bundesstaatlichkeit der Rußländischen Föderation, nämlich seiner Orientierung an einem starken, funktionsfähigen und rational durchstrukturierten föderalen Staat, ist diese Position keineswegs inkonsequent. Sie hat Abdulatipov allerdings in Gegensatz zu fast allen politischen Gruppen und Akteuren gebracht, die in Dagestan eine Rolle spielen. Dazu beigetragen hat allerdings auch die nicht unwichtige Tatsache, daß Abdulatipov nachdrücklich für die Auflösung der nationalen Bewegungen in Dagestan eintritt. Seiner Autorität im Zentrum hat dies nicht unbedingt geschadet, doch erleichtert der zwischen ihm und den Führern der nordkaukasischen Regionen aufgerissene tiefe Graben von Meinungsverschiedenheiten über das politische Vorgehen in der Region natürlich nicht die schwierige Lage, in der sich das föderale Zentrum im Blick auf den Nordkaukasus insgesamt befindet. Mit der Anfang Juli getroffenen Entscheidung, außer der Abriegelung der Grenzen zu Tschetschenien auch die in Tschetschenien liegenden Zentren der terroristischen Kommandoeinsätze durch gezielte Gegenschläge unter Einschluß der Luftwaffe auszuschalten, hat die föderale Regierung ihre seit 1996 anhaltende Unentschlossenheit überwunden, das derzeit einzige ihr zur Verfügung stehende Mittel der “Ordnungsschaffung” im Nordkaukasus einzusetzen, nämlich das der militärischen Gewalt165.
Fußnoten:
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