Mit Raketen das Kernkraftwerk Metzamor angreifen. Aserbaidschans törichte Drohung, die Tür und Tor für eine regionale Katastrophe öffnen könnte

Vagif Dargahli, ein Sprecher des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums, drohte am 16. Juni mit einem Angriff auf das armenische Kernkraftwerk Metzamor – die Kämpfe an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze gingen zu dem Zeitpunkt noch weiter. Der aserbaidschanischen Presse zufolge sagte Dargahli: „Die armenische Seite darf nicht vergessen, dass die hochmodernen Raketensysteme unserer Armee es uns ermöglichen, das Kernkraftwerk Metzamor mit Präzision anzugreifen, was zu einer großen Katastrophe für Armenien führen könnte.“[1]

Das armenische Außenministerium reagierte mit einer scharfen Erklärung: „Die Drohungen des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums, Raketenangriffe auf das armenische Kernkraftwerk Metzamor zu starten, zeigen den Grad der Verzweiflung und die Geisteskrise der politisch-militärischen Führung Aserbaidschans. … Wir verurteilen nachdrücklich die von Aserbaidschan geäußerten nuklearen Drohungen, die das absolute Fehlen von Verantwortung und gesundem Urteilsvermögen dieses besonderen Mitglieds der internationalen Gemeinschaft zeigen … Solche Drohungen sind eine ausdrückliche Demonstration des Staatsterrorismus und der völkermörderischen Absicht Aserbaidschans.“[2]

Dr. Josef Siegele, Generalsekretär des European Ombudsman (Bürgerbeauftragter) Institute – eine Organisation der EU – reagierte mit einem Tweet auf die Drohung Aserbaidschans. Er sagte u.a.: „Diese Äußerung ist eine klare Drohung an die Adresse der Zivilbevölkerung und sie kann zu einer humanitären Katastrophe führen. Solche Äußerungen untergraben das internationale System der Menschenrechte. Das Humanitäre Völkerrecht verbietet eine solche Bedrohung der Zivilbevölkerung absolut.“[3]

In einem Interview sagte Prof. Heinz Gärtner, wissenschaftlicher Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (OIIP): „Obwohl die Drohung, ein ziviles Atomkraftwerk ins Visier zu nehmen, nicht dasselbe ist wie die Drohung, eine Atomwaffe einzusetzen, würde sie gegen das nukleare Tabu verstoßen und eine rote Linie gefährlich überschreiten. Es ziehe eine unkontrollierbare Spirale der Eskalation nach sich. Die Einbeziehung potenzieller Opfer mit nuklearen Mitteln ist eine Art Erstnutzung und geht über jede Abschreckungspolitik hinaus.“[4]

Dr. Vladimir Vardanyan, Vorsitzender des Ständigen Ausschusses für Staats- und Rechtsfragen der Nationalversammlung der Republik Armenien, erinnerte an Art. 56 von Zusatzprotokoll I der Genfer Konvention[5]: „Anlagen oder Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten, nämlich Staudämme, Deiche und Kernkraftwerke, dürfen auch dann nicht angegriffen werden, wenn sie militärische Ziele darstellen, sofern ein solcher Angriff gefährliche Kräfte freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann. Andere militärische Ziele, die sich an diesen Anlagen oder Einrichtungen oder in deren Nähe befinden, dürfen nicht angegriffen werden, wenn ein solcher Angriff gefährliche Kräfte freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann.“

Zwar sei Aserbaidschan immer noch nicht Vertragspartei der Zusatzprotokolle zu den Genfer Konventionen. Doch eben diese Bestimmung sei Teil des humanitären Völkergewohnheitsrechts, das Aserbaidschan wie auch alle anderen Länder binde und in das Strafgesetzbuch Aserbaidschans Eingang gefunden habe.

Wie kam es zur Drohung?

Vagif Dargahlis Drohung erfolgte offenbar als Antwort auf eine Frage eines Reporters über die Möglichkeit eines armenischen Angriffs auf den Mingachevir-Staudamm in Zentralaserbaidschan, das größte Wasserkraftwerk im Südkaukasus (s. Fußnote 1).

Dass die Sicherheit des Mingachevir-Staudamms für Aserbaidschan enorm wichtig ist, steht außer Frage. Fakt ist allerdings auch: Kein verantwortlicher armenischer Politiker hat einen Angriff auf zivile Ziele Aserbaidschans (außer dem genannten Staudamm gibt es zahlreiche andere relevante Objekte) angedroht oder gar angedeutet. Warum reagierte also das aserbaidschanische Verteidigungsministerium auf eine nicht-existente Bedrohung auf diese Art und Weise?

Die internationale Reaktion zwang Aserbaidschan zu einem lauen und sehr verspäteten Dementi. Hikmet Hajiyev, ein leitender Berater des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev, sagte, gegenüber France24, die Drohung Aserbaidschans, ein ziviles Atomkraftwerk in Armenien anzugreifen, sei von einem niederrangigen Militäroffizier ausgesprochen worden und spiegele nicht die offizielle Haltung seines Landes wider.[6]

Es ist absolut unglaubwürdig, dass ein „niederrangiger Militäroffizier“ von sich aus, also ohne Rücksprache mit seinen Vorgesetzten, eine in mehrfacher Hinsicht törichte Drohung, ausspricht. Denn im Falle einer nuklearen Kontamination wäre nicht nur Armenien, sondern auch die Nachbarländer Türkei, Georgien, Iran und auch Aserbaidschan betroffen.[7]

Was wären die Folgen?

Selbst wenn Metzamor vom aserbaidschanischen Raketenangriff keine schwerwiegenden Schäden davontrüge (s. Fußnote 7), wurde die armenischen Regierung nicht tatenlos zuschauen. Für die folgende Bewertung von Paul Goble[8] spricht einiges: „Das Zurückrudern [Aserbaidschans] spiegelt die Erkenntnis wider, dass ein solcher Angriff Baku sofort zu einem internationalen Paria machen, Armenien möglicherweise veranlassen würde, aserbaidschanische Dämme und sogar Öl- und Erdgasanlagen anzugreifen (enorme Verluste an Menschenleben und wirtschaftliche Verwüstung wären die Folgen), sowie die Russische Föderation, die bereits Soldaten in Armenien stationiert hat, in den Krieg auf der Seite Jerewans zu verwickeln.“[9]

Endnoten.

[1] https://www.civilnet.am/en/news/381198/azerbaijan-threatens-armenias-metsamor-nuclear-power-plant-as-tensions-escalate/
[2] https://www.mfa.am/en/interviews-articles-and-comments/2020/07/16/MFA_Metzamor/10379
[3] https://twitter.com/siegele_jos/status/1284150781583732738/photo/1
[4] https://armenpress.am/eng/news/1022813.html
[5] https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19770112/index.html
[6] https://www.france24.com/en/europe/20200722-interview-adviser-to-azerbaijan-s-president-we-are-expecting-provocation-from-armenia-at-any-moment?ref=tw
[7] In einer umfangreichen Analyse geht Victor Kuzovkov am 19. Juli darauf ein, ob Aserbaidschan Metzamor mit seinem Raketenarsenal zerstören könne (Link: https://newizv.ru/article/general/19-07-2020/zaschita-silnee-napadeniya-mozhet-li-azerbaydzhan-unichtozhit-armyanskuyu-aes) und beantwortet das abschlägig. Auch David Hambling geht auf diese Frage ein (Link: https://www.forbes.com/sites/davidhambling/2020/07/17/threat-of-chernobyl-style-catastrophe-in-caucasus-drone-war/#164cee997946). Sein Argument: Die Raketen im Arsenal von Aserbaidschan, darunter auch LORA („Long Range Attack“) aus israelischer Produktion, seien nicht genau genug, um ein Ziel wie Metzamor zu treffen. Er verweist auf Drohnen und erwähnt Bayraktar TB2 aus türkischer Produktion. Doch es ist mehr als zweifelhaft, dass ihre mit deutscher Technologie gebauten Raketen in der Lage sind, Metzamor zu gefährden (s. Victor Kuzovkovs Ausführungen).
[8] Paul A. Goble ist ein amerikanischer Analytiker, Schriftsteller und Kolumnist . Er ist Herausgeber von vier Bänden über ethnische Fragen in der ehemaligen Sowjetunion und hat mehr als 150 Artikel zu Fragen der Ethnie und Nationalität veröffentlicht. Goble diente Staatssekretär James Baker als Sonderberater für Fragen der sowjetischen Nationalität und baltische Angelegenheiten. Derzeit unterrichtet er als außerordentlicher Professor am Institut für Weltpolitik einen Kurs über „Islam und Geopolitik in Eurasien“.
[9] https://jamestown.org/program/armenian-nuclear-power-plant-able-to-withstand-attack-russian-security-expert-claims/

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