Messe auf Achtamar – Namaz in Ani: Bilder aus der Türkei

Am 19. September wurde in der Heilig Kreuz-Kirche auf der Insel Achtamar erstmalig in der Republikzeit die hl. Messe zelebriert. Über die Entwicklungen im Vorfeld haben wir bereits berichtet.

Überaus komplex, vielfältig und widersprüchlich sind die Eindrücke von diesem Tag.

Fangen wir mit Jerewan an. An jenem Tag versammelten sich am Genozid-mahnmal viele Menschen und protestierten. Auf einem Plakat war die Achtamar-Kirche hinter Gittern zu sehen (s. Foto unten rechts).[1] Ein Redner bezeichnete die Messe auf Achtamar als „Show der türkischen Regierung“ – eine Formulierung, die man auch in der weltweiten armenischen Publizistik des Öfteren lesen konnte. Die Farce mit dem Kreuz auf Achtamar und das Debakel um die armenisch-türkischen Protokolle bildeten u. a. den Hintergrund dieser Protestaktion am Genozidmahnmal.

Über Van und Achtamar wurde deutlich mehr berichtet, auch international,[2] und die Eindrücke waren komplex.

Wie viele Menschen am 19. September letztlich dort waren, darüber wurden abweichende Angaben gemacht. Von einigen hundert Armeniern sprach Hürriyet, andere gaben die Zahl mit bis zu 5000 an. Was für Menschen kamen und woher? Zunächst einmal waren Armenier aus der Türkei dort, vorrangig aus Istanbul. Hinzu kamen Armenier aus dem Ausland (Armenien, Georgien, USA, Deutschland usw.). Aus den Berichten wissen wir, dass auch zahlreiche Menschen aus der Gegend und (einige wenige?) aus anderen Teilen der Türkei nach Achtamar kamen, darunter auch Muslime.

In den Medien wurde vielfach über Emotionales berichtet, so zum Beispiel über die religiöse Ergriffenheit etlicher Ar-menier, die seit 1915 erstmalig in der Hl. Kreuz Kirche auf der Insel Achtamar einer armenischen Messe beiwohnen durften.

Begegnungen mit den Menschen aus der Region wurden ebenfalls thematisiert. Diese waren entweder Kurden mit oder ohne armenische Wurzeln oder Nachfahren jener Armenier, die 1915 islamisiert worden waren bzw. zum Überleben den Islam angenommen hatten und jetzt als „Kurden“ oder „Türken“ dort lebten. Diese Menschen outeten ihre armenische Wurzeln mit teilweise sehr symbolträchtigen Gesten, so zum Beispiel durch Übergabe von Trauben aus einem ehemaligen armenischen Dorf. Kenntnis erlangten die Berichterstatter entweder im direkten Gespräch mit den Betroffenen („Meine Vorfahren sind Armenier“) oder Dritte erzählten von konvertierten Armeniern („X beschäftigt in Van drei sehr tüchtige Arbeiter, sie sind islamisierte Armenier“). Recht interessant ist die Schilderung unserer Autorin Ayşe Günaysu. Sie traf dort einen Armenier aus Istanbul, der 1979 bei Folterungen – er war ein Linksaktivist – einen Großteil seiner Lunge verloren hatte. Dieser berichtete ihr, dass er Jahre später im Südosten des Landes einen Nomadenstamm getroffen habe, deren Mitglieder sich als Armenier zu erkennen gaben, die 1915 den Islam angenommen hatten (Armenian Weekly, 2.10.2010).

Schon seit einigen Jahren spricht und publiziert man in der Türkei über die sog. Kryptoarmenier (wir haben in der ADK Bücher zum Thema in jüngster Zeit ausführlich vorgestellt), dennoch die leibhaftige Begegnung mit diesen Menschen auf einem Flecken des historischen Armenien unter den besonderen Bedingungen der „historischen“ Messe in einer Ikone der armenischen Architektur musste einen emotional starken Eindruck hinterlassen.

Ebenfalls „historisch“ ist die armenische Ausgabe von Van Times, bei der die Redakteure von Agos mitwirkten.

Es ist nicht verwunderlich, dass in dieser Atmosphäre über die Möglichkeit der Rückkehr der „Kryptoarmenier“ in den Schoß der armenischen Nation laut nachgedacht wurde.

Aber auch weniger Positives fiel auf. So berichtete Ayşe Günaysu von Menschen, die sich mit Hintergedanken an die Armenier heranmachten. Es ging auch dieses Mal um das legendäre „Gold der Armenier“, dessen Verstecke sie von den anwesenden Armeniern zu erfahren hofften.

Gayane Mkrtchyan aus der Republik Armenien, Reporterin von ArmeniaNow, bekam am Flughafen von Van Broschüren und Booklets über die Stadt in die Hand gedrückt. „‘Die Wurzeln der Stadt Van liegen im Staate Urartu. Die Bürger Urartus waren die Vorfahren der Kurden‘ steht in einer der Broschüren“, schreibt sie und weiter: „Ich habe mir die gesamte Broschüre angeschaut, in der Hoffnung, dort das Wort „Armenier“ zu finden, aber es war nicht da.“

Trotz einiger kritischer Bemerkungen wurde die Restaurierung der Hl. Kreuz-Kirche durch die türkische Regierung allgemein begrüßt (wir berichteten ausführlich, s. ADK 139, Jg. 2008/ Heft 1, S. 41-46). Die Messe auf Achtamar brachte es mit sich, dass die Besucher sich auch die Van-Region anschauten. Einer davon stellte fest, die armenischen Kirchen und Klöster der Region, die er noch vor 10 Jahren gesehen hätte, seien nunmehr nicht da. Zakarya Mildanoğlu, er überließ uns einige seiner Fotos für diese Ausgabe, befasste sich auch mit den Klöstern und Kirchen des Van-Gebietes für Agos und wählte den Titel „Was ist mit den Klöstern der Van-Region passiert?“. Drastischer fiel sein Titel für die türkische Fassung seines Artikels aus: „Ein Blick auf die sich ‚in Luft aufgelösten‘ [armenischen] Klöster der Van-Region“ und zählte darin all die Klöster auf, die früher einmal da waren.

Ende September fand die Farce mit dem Kreuz ein Ende: Es wurde auf die Kuppel der Achtamar-Kirche angebracht. Angeblich war das vor der Messe aus „technischen“ Gründen nicht möglich. Viele hielten das für ein vorgeschobenes Argument. Tatsächlich sei es der regierenden AKP darum gegangen, „ihr“ Verfassungsreferendum vom 12. September mit einer unbedachten Aktion nicht unnötig zu gefährden, so eine oft gehörte Vermutung.

Unmittelbar nach der Anbringung des Kreuzes wurde die Öffentlichkeit Zeuge einer gespenstischen Aktion der rechtsextremen Partei MHP.

Am 1. Oktober, einem Freitag, tauchten Anhänger der Partei angeführt vom Vorsitzenden Devlet Bahçeli auf dem Areal der alten armenischen Hauptstadt Ani, direkt an der armenisch-türkischen Grenze gelegen, auf und marschierten zielstrebig auf die Kathedrale zu.[3] Die Anhänger raunten, als sie Devlet Bahçeli sahen: „Der Führer (başbuğ) ist da“. Vorneweg ging eine Gruppe, ein Teil von ihnen als osmanische Militärmusiker (mehter takımı), ein anderer Teil als Yenitscharen verkleidet. Die Musiker spielten den legendären Mehter Marşı, die Yenitscharen marschierten nach traditioneller Art. Etwa 500 Menschen betraten die Kathedrale von Ani und zelebrierten dort das Freitagsgebet, weitere 400 sollen draußen gebetet haben. Videos sind im Internet verfügbar.[4] Das Kulturministerium soll der Aktion seinen Segen gegeben haben, offiziell wurde sie als „Zeichen der größer gewordenen religiösen Toleranz“ ausgegeben, so in einem der Videos.

Was wollte die MHP mit dieser Aktion zum Ausdruck bringen? Handelte es sich lediglich um Politshow, wie einige vermuteten? Wir meinen, nicht nur Politshow.

  • Die AKP war das eine Ziel, die als Konkurrentin bei den Parlamentswahlen am Juli 2011 zu diskreditieren galt. Auf einem der mitgebrachten Banner war zu lesen: „Wenn auf Achtamar die [Kirchen]glocken läuten, erklingt in Ani der Ezan (muslimischer Gebetsruf, R. K.)“. Eine Partei wie die AKP, die den Armeniern so etwas erlaubt, ist für türkische Patrioten nicht wählbar. Und: die MHP ist die wahre Verteidigerin der Religion.
  • Achtamar ist durch das Aufsetzen des Kreuzes nicht mehr wie bislang als Museum, sondern als vollwertige Kirche zu betrachten, das zieht die Wut der Ultranationalisten auf sich. Die AKP, die solches erlaubt, ist erst recht nicht wählbar.
  • Armenier sind für die MHP und ihre Konsorten ein Feindbild, mit dem – auch bei Wahlen – gepunktet werden kann. Im August genehmigte die türkische Regierung einen ähnlich wichtigen Gottesdienst für die griechisch-orthodoxen Christen im alten Kloster Sumela im Nordosten Anatoliens. Dagegen hat die MHP bis heute nichts unternommen.
  • Die Messe auf Achtamar kann für die Mobilisierung alter Ängste eingesetzt und für nationalistische Reflexe instrumentalisiert werden („Die Armenier kehren nach Ostanatolien zurück, ergreifen von unserem Land Besitz“ – das wäre eine Variante des Sèvres-Symptoms).
  • Der Ort Ani ist in den Köpfen dieser Menschen – auch wenn sie nach außen hin das Gegenteil behaupten – ein „armenischer“ Ort, ihre Provokation würde sonst nicht funktionieren.
  • Ani ist durch seine Lage – es liegt unmittelbar an der türkisch-armenischen Grenze – für den militärischen Mummenschanz mit den Yenitscharen bestens geeignet. Der „Aufmarsch“ kann gerade dort als eine symbolische Drohung interpretiert werden („Heute beten wir in eurer Kirche auf unserem Territorium, morgen können wir es auch woanders tun“).

Jedenfalls ist klar, dass die Renovierung der Achtamar-Kirche oder gar eine Messe dort mit türkischen Nationalisten nicht machbar gewesen wäre.

Die Frage, warum gerade die AKP diesen Weg gegangen ist, wird je nach Standpunkt unterschiedlich beantwortet. Die Türkei will EU-Mitglied werden und diese mahnt beständig die Lage der (christlichen) Minderheiten an. Deswegen greift die Türkei zu solchen symbolischen Gesten, um die EU günstig zu stimmen, vermuten einige. Die AKP als eine islamistisch orientierte Partei ist (nicht so) nationalistisch wie z. B. die Kemalisten, ihre Sicht auf die christlichen Minderheiten ist von daher toleranter, vermuten andere.

Streng genommen braucht man diese Trennung nicht. Die Renovierung der Achtamar-Kirche und die Messe dort kann man mit beiden Ansätzen plausibel machen. Auch die neuerlichen Ideen, die man aus der Türkei hört, passen zu beiden. Da soll die Kirche in südtürkischen Tarsus dem Gottesdienst geöffnet werden (eine Geste an die westliche Christenheit), der Messe in Surmela als Geste an die orthodoxe Christenheit wurde bereits erwähnt. Jüngst schlug ein Berater des türkischen Religionsamtes Diyanet, Mehmet Akif Aydin, für die Hagia Sophia vor, dass Muslime und Christen abwechselnd das jetzige Museum für religiöse Zwecke benutzen könnten. Mit so etwas bekommt man im Westen eine gute Presse, manche geraten regelrecht ins Schwärmen.

Im Falle der Armenier soll es weiter gehende Überlegungen geben. Ayhan Aktar berichtet von seiner Unterredung mit dem Gouverneur von Van, Münir Karaloğlu (Taraf, 27.9.2010). Dieser soll ihm gegenüber von einer Vielzahl von Kulturdenkmälern in seiner Region gesprochen haben, die restauriert werden müssten. Bei einem davon, Varagavank, außerhalb der Stadt Van gelegen, sei die Projektphase bereits abgeschlossen. Varagavank war nicht nur ein Kloster, sondern dort wurden auch die Mitglieder des Hauses Ardsruni beigesetzt, also wieder ein symbolträchtiger Schritt. König Gagig, der die Hl. Kreuz Kirche auf Achtamar erbauen ließ, gehörte ebenfalls zu diesem Geschlecht.

Für die unzähligen armenischen Kirchen, Klöster und sonstigen Kulturdenkmäler, die vielfach (auch mutwillig und auf der Suche nach dem „Gold der Armenier“) zerstört, zweckentfremdet worden sind, sollen jetzt einige „gerettet“ werden bzw. sind schon „gerettet“ worden, sozusagen stellvertretend. Kann das den Verlust überhaupt wettmachen? Natürlich nicht, wäre die eine Antwort, die andere: Vor zehn Jahren waren wir nicht so weit. Und: Fortschritt kann ein quälender Prozess sein.


[1] http://www.youtube.com/watch?v=DeWaNbyN8rU

[2] http://www.bbc.co.uk/news/world-europe-11366201, http://www.bbc.co.uk/news/world-europe-11362391

http://www.msnbc.msn.com/id/39259466/ns/world_news-europe/

http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2010/09/19/AR2010091900811.html

http://edition.cnn.com/video/#/video/world/2010/09/17/watson.turkey.armenian.church.cnn?iref=allsearch

http://www.eurasianet.org/node/61965

http://www.eurasianet.org/node/61964

http://webtv.hurriyet.com.tr/1/9794/0/1/yuzlerce-ermeni-akdamar-a-geldi.aspx

[3] http://www.armenews.com/article.php3?id_article=64382&var

[4] Das erste Video war ursprünglich auf YouTube zu sehen, wurde dort bald gelöscht. http://www.woopie.jp/video/watch/63d6b2026b83d85d

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