„Im Herzen so ängstlich wie eine Taube“. Zum Zustand des türkischen Rechtsstaates – Zehn Jahre nach dem Attentat auf Hrant Dink. Ein Bericht

Am 19. Januar 2007 wurde Hrant Dink vor dem Redaktionsgebäude seiner Zeitung AGOS von einem jungen türkischen Nationalisten hinterrücks mit Schüssen niedergestreckt.

Der Gerichtsprozess, der als eine Farce bezeichnet werden muss, dauert seit 10 Jahren – ohne dass die Hintermänner zutage gefördert worden wären. So gesehen sind die Probleme des türkischen Rechtsstaats nicht nur Folge des gescheiterten Putsches vom 15. Juli 2016, sie reichen sehr weit zurück. Und keineswegs war Hrant Dink das erste oder gar das einzige Opfer eines politischen Mordes. Erinnert seien die so genannten Christenmorde von Malatya, auch die Ermordung von Tahir Elçi gehört dazu.

Der Heinrich-Böll-Stiftung und der Deutsch-Armenischen Gesellschaft war als Organisatoren klar, dass sie an diesem zehnten Jahrestag der Ermordung von Hrant Dink sich nicht mit Erinnerungen an ihn begnügen sollten. Dass es vielmehr notwendig war, den Hintergrund auszuleuchten und mehr noch den Gerichtsprozess und somit auch Recht und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei, deren rasante Erodierung in den letzten Jahren, ganz besonders jedoch nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 geradezu mit den Händen zu greifen ist.

Und wo Recht und Rechtsstaatlichkeit nur sehr bedingt funktionieren, bleibt es nicht aus, dass der zivilgesellschaftliche Dialog, die Meinungs- und Informationsfreiheit massiv eingeschränkt werden. Und so wurde auch dieser Aspekt Teil der Konferenz.

Als Referenten konnten die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags Claudia Roth, RA‘ Fethiye Çetin, RA Erdal Doğan, RA Mahsuni Karaman, der Abgeordnete der  Großen Nationalversammlung der Türkei Garo Paylan, der Verleger Ragıp Zarakolu, Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen, Prof. Dr. Ümit Biçer, Emma Sinclair-Webb von Human Rights Watch gewonnen werden.

Der Begrüßung durch Kristian Brakel, Heinrich-Böll-Stiftung, und Dr. Raffi Kantian, Deutsch-Armenische-Gesellschaft, folgte der Einführungsvortrag von Claudia Roth „Erinnerungen an Hrant Dink“.

Drei Vorträge (Fethiye Çetin „Der Mord an Hrant Dink 2007 – Die juristische Aufarbeitung“, Erdal Doğan „Der Fall Hrant Dink im Kontext der Minderheitenpolitik der Türkei“, Mahsuni Karaman „Tahir Elçi – Weiteres Opfer eines politischen Mordes?“) folgten.

Anschließend ging es mit zwei Panels weiter:

Panel I: Aufklärung unerwünscht? Recht & Rechtsstaatlichkeit in der Türkei mit     Fethiye Çetin, Mahsuni Karaman, Erdal Doğan, Garo Paylan,  (Moderation: RA Ilias Uyar)

Panel II: In der Sackgasse: Zivilgesellschaftlicher Dialog, Meinungs- und Informationsfreiheit mit Ragıp Zarakolu, Christian Mihr, Prof. Dr. Ümit Biçer, Emma Sinclair-Webb, (Moderation: Ebru Tasdemir)

Ein Überblick
Nur punktuell kann auf diese sechsstündige, sehr dichte und ungemein gut besuchte Veranstaltung eingegangen werden.

Claudia Roths Vortrag war nicht nur eine emphatische Charakterisierung Hrant Dinks, er war auch eine beherzte Schilderung der türkischen Verhältnisse, die sie mit einem Appell beendete: „Wo sind sie heute, die 100.000, mit den ‚Wir alle sind Hrant Dink‘-Schildern? Wir in Europa müssen diesen Menschen nun neuen Mut zusprechen. (…) Wir müssen uns alle ein Beispiel an Hrant Dink nehmen: Er hätte nicht aufgegeben. Hrant hätte einfach weitergemacht. Mit Zuversicht und Optimismus. Wir brauchen Dich heute mehr denn je.“[1]

Das von den anderen Referenten gezeichnete Bild bot wenig Anlass zum Optimismus. Der zehnjährige Prozess im Mordfall Hrant Dink hatte so manches Detail an den Tag gefördert. Dass zum Beispiel am 19. Januar 2017 am Tatort nicht nur der bekannte Schütze Ogün Samast sich aufhielt, sondern Gendarmen sowohl aus Istanbul als auch aus Trabzon – alle in Zivil. Die Gespräche, die diese während der Tatzeit miteinander geführt hatten, hätte einiges zur Aufklärung beigetragen. Doch die Handys, die sie benutzten, seien unmittelbar vor der Aktion vom Einsatzleiter an sie verteilt und unmittelbar danach wieder eingesammelt worden. Diese hätten die Verteidiger trotz ihrer Bemühungen nicht bekommen. Ohne die Handys könne man zu diesen wichtigen Informationen nicht gelangen.

Immerhin, das war eine der wenigen guten Nachrichten, werde gegenwärtig auch jenen der Prozess gemacht, die Teil des Sicherheitsapparats waren und trotz der ihnen bekannten Attentatspläne nichts zur Vereitelung des Mordes unternommen hatten. Man hoffe mit der Zeit, auch jener habhaft zu werden, die die eigentlichen Befehle erteilt hätten.

Allerdings zeigte der mittlerweile abgeschlossene Prozess um die Christenmorde von Malatya, dass es wenig Anlass für Optimismus besteht. Denn obwohl ranghohe Armeeoffiziere vor Gericht standen, wurden sie letztlich freigesprochen, verurteilt wurden lediglich die unmittelbaren Täter.

Es klang ein wenig ironisch, dass im Falle von Tahir Elçi nicht einmal die unmittelbaren Täter ermittelt werden konnten, geschweige denn die Hintermänner – ein Spezifikum bei politischen Morden an Kurden. Auch sei der Tatort akribisch von Unbekannten gesäubert worden, so dass eine abschließende Beurteilung des Tathergangs unmöglich war, wozu auch entscheidende Lücken in der Videoaufzeichnung des Tatortes zählten.

Doch kann unter den obwaltenden Zuständen in der Türkei überhaupt von Recht bzw. Rechtsstaatlichkeit die Rede sein?

Viele Richter und Staatsanwälte hätten Angst, dass wenn sie das von ihnen Geforderte nicht tun, sie sehr schnell aus dem Amt entfernt und im Extremfall auf der Anklagebank landen könnten.

Hinzu kommt, dass jene auf der Anklagebank landeten, die zu einer der so genannten Terrororganisationen der Türkei zugeordnet würden. Die eigentlichen Ermittlungsergebnisse scheinen zweitrangig zu sein. Vor einigen Jahren noch war das die „Terrororganisation Ergenekon (ETÖ)“, heute sei das die „Terrororganisation Fethullah Gülen (FETÖ)“. Damals, als Erdoğan und Gülen  miteinander kooperierten, standen jene im Visier, die ETÖ zugerechnet wurden.

So nimmt es nicht Wunder, dass beim Dink-Prozess  gegenwärtig jene auf der Anklagebank sitzen, denen die Mitgliedschaft bei FETÖ unterstellt wird.

Auch scheint die Herkunft der Opfer von Bedeutung zu sein. Wie festgestellt wurde, werden die nichtmuslimischen Staatsbürger als „einheimische Fremde“ bezeichnet, somit gelten sie als Bürger minderen Rechts. Das kann potenziell – entgegen den üblichen Rechtsnormen –  auch eine Ungleichbehandlung bei Prozessen nach sich ziehen.

Bedenkt man, dass – wie ausgeführt wurde – für die Türkei die „Tätigkeit der (christlichen) Missionare“ als Bedrohung Nummer drei gilt, so kann man „verstehen“, warum es zu den Christenmorden von Malatya kam.

Prof. Dr. Ümit Biçer war der einzige Referent, der nicht kommen konnte, genauer gesagt, nicht kommen durfte. Ihm war bei der Ausreise sein Pass abgenommen worden. Immerhin wurde es möglich, ihn – wenn auch kurz – per Skype zu erreichen. Er war bei seiner Universität in Ungnade gefallen, weil auch er den Aufruf „Akademiker für den Frieden“ unterzeichnet hatte, in dem diese die türkische Regierung aufforderten, wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren und eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts anzustreben. Er war weder verhaftet worden, noch hatte man ihm den Prozess gemacht, dennoch entließ ihn seine Universität fristlos und offenbar war er mit einem Ausreiseverbot belegt worden.

Der Fall Biçer zeigt – neben der eklatanten Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien – auch die gegenwärtige offensichtliche Unmöglichkeit eines zivilgesellschaftlichen Dialogs und die Brandmarkung der Unterzeichner dieses Aufrufs als vermeintliche „Terroristen“.  Ümit Biçer steht auch beispielhaft für die  unzähligen Entlassenen, die vor dem Trümmerhaufen ihres bürgerlichen Existenz stehen und nicht wissen, wie sie und ihre Familien überleben sollen.

Auch die Schilderung parlamentarischer Abläufe – das Herzstück von demokratisch verfassten, nach rechtsstaatlichen Prinzipien  funktionierenden Staaten – trug zur Abrundung des Gesamtbildes bei.

So sollen die Abgeordneten der regierenden AKP bei der Abstimmung über die Novellierung der türkischen Verfassung ihre grünen und roten Stimmzettel (Grün für Enthaltung, Rot für Nein, Weiß für Ja) einem Aufpasser abgegeben und den verbliebenen weißen Stimmzettel vor der Abgabe hochgehalten haben, damit jeder ihr Abstimmungsverhalten sieht. Ähnlich sollen die Abgeordneten der rechtsextremen Partei MHP  vorgegangen sein, ohne die die AKP die Novellierung nicht durchbekommen hätte.

Die Referenten zeigten sich wiederholt von der „Zurückhaltung“ Europas und Deutschlands enttäuscht. Sehr wohl hätten diese Möglichkeiten, den gegenwärtigen Gang der Dinge zu verändern. Aus Sorge, dadurch Nachteile zu erleiden (Flüchtlingsproblematik), würden sie wegschauen. Dabei nähmen sie Erdoğans Drohgebärden für bare Münze. Wenn es mit der politischen Entwicklung in der Türkei so weitergehe, könnten irgendwann statt 3 Millionen Flüchtlingen 30 Millionen vor den Grenzen Europas stehen. Polemisch überspitzt war sicherlich die Frage, warum Deutschland überhaupt etwas unternehmen solle, denn schließlich sei die Türkei ein guter Kunde, der im Vergleich zu früher mehr Waffen aus Deutschland kaufe, und obendrein die Flüchtlinge fernhalte. Nur Vorteile also.

Die Teilnehmer der Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung und der Deutsch-Armenischen Gesellschaft waren – das belegen die Auswertungsbogen der Teilnehmer – in hohem Maße zufrieden und beeindruckt von der Dichte und Unmittelbarkeit der Informationen aus dem Munde der sehr kompetenten Referentinnen und Referenten.

Die armenische Zeitung Azg, Jerewan, berichtete.[2] Eine Auswahl der Fotos ist auf der Webseite der Deutsch-Armenischen Gesellschaft zu finden.[3]

[1] https://www.boell.de/de/2017/02/07/rede-von-claudia-roth-erinnerungen-hrant-dink?utm_campaign=euna
[2] http://azg.am/AM/print/2017020304
[3] https://www.deutscharmenischegesellschaft.de/materialien/bildergalerien/bildergalerie-im-herzen-so-aengstlich-wie-eine-taube-berlin-26-januar-2017/

Dieser Bericht und die Fotos befinden sich auch auf der Webseite der Heinrich-Böll-Stiftung.

 

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