Hrant Dink-Prozess: Ein beschämendes Gerichtsurteil

Hrant Dink ist auf den Tag genau vor fünf Jahren ermordet worden, der Prozess gegen seine Mörder ist fast auf den Tag genau fünf Jahre danach zu Ende gegangen – mit einem beschämenden Urteil.

Die wesentlichen Punkte: Yasin Hayal wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, Erhan Tuncel, der V-Mann der Sicherheitskräfte, wurde freigesprochen, der vermeintliche Schütze Ogün Samast war zuvor von einem Jugendgericht zu 22 Jahren Haft verurteilt worden. Und der Punkt, der für die meiste Aufregung sorgte: Das Gericht konnte nicht hinreichende Hinweise für ein organisiertes Verbrechen finden. Der zuständige Richter Rüstem Eryılmaz drückte das so aus: „Ich kann nicht sagen, dass keine Organisation dahinter steht, aber wir haben keine hinreichenden Beweise dafür gefunden.“

Noch Ende August konnte der Staatsanwalt keine Verbindung zwischen den Angeklagten und der Terrorgruppe „Ergenekon“ erkennen. Mitte September jedoch stellte derselbe Staatsanwalt fest, Erhan Tuncel und Yasin Hayal hätten die Zelle dieser Gruppe in Trabzon geleitet, also doch eine Verbindung. Allerdings sei es nicht möglich, die Verbindungen dieser Zelle zu der Zentrale der Terrorgruppe „Ergenekon“ zu ermitteln, weil die Telefonaufzeichnungen, die darüber hätten Auskunft geben können, von den Behörden in Trabzon gelöscht worden seien.

Die Rechtsanwältin der Familie Dink, Fethiye Çetin, sagte der ADK im Oktober: „Von der Sorte Dinge hat es viele gegeben in Trabzon. Die Staatsanwälte, die den Mordfall untersuchten, haben eine Vielzahl von Unterlassungen und Fehler festgestellt und die Staatsanwaltschaft in Trabzon aufgefordert, gegen Polizisten und Gendarmen in Trabzon gerichtlich vorzugehen. Die Staatsanwaltschaft von Trabzon hat nichts unternommen, wir haben dagegen protestiert, das zuständige Gericht in Rize hat unsere Klage abgewiesen. Zum Schluss haben wir uns an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gewandt. Dieser hat sein bekanntes Urteil gefällt.

Eigentlich hätte der Staatsanwalt im September gegen die Verantwortlichen in Trabzon einen Prozess anstreben müssen, denn diese hatten, wie er selbst feststellte, Beweismittel vernichtet, aber er ist dazu nicht in der Lage.“

Beim nächsten Prozesstag am 14. November sorgten die Aussagen von Bahattin Hayal, Vater des Angeklagten Yasin Hayal für Schlagzeilen. Der Leiter der Antiterrorabteilung in Trabzon, Yahya Öztürk, habe ihm nach der Ermordung von Hrant Dink gesagt: „Ich arbeite für den Staat, ebenso dein Sohn Yasin.“ Er habe darüber mit einem Staatsanwalt in Trabzon gesprochen und dieser habe ihm geraten, nichts zu unternehmen, sonst würde er, Bahattin Hayal, Ärger bekommen.

Die Verteidigung hat immer wieder vorgetragen, dass am 19. Januar 2007 der Schütze Ogün Samast am Tatort nicht alleine war. Grundlage für diese These bildeten die (nicht vollständigen) Videoaufzeichnungen der benachbarten Geschäfte und Einrichtungen. Um dieser These Nachdruck zu verleihen, lud Rechtsanwältin Fethiye Çetin am 26. Juli zu einer Pressekonferenz. Anhand von 15 Videoaufzeichnungen, alle in unmittelbarer Nähe zum Tatort aufgenommen, machte sie auf vier Personen aufmerksam, die sich dort aufhielten (einige über einen längeren Zeitraum, was für diese sehr belebte Straße außergewöhnlich ist), sich auffällig verhielten, miteinander in Kontakt traten und telefonierten.
Genaueres über die Identität dieser vier Personen hätten ihre Telefondaten verraten. Auch hätten sie möglicherweise Näheres über ihre Hintermänner zu Tage gefördert. Auskunft darüber kann nur das Telekomünikasyon İletişim Başkanlığı (TİB) (Direktorat für Telekommunikation) geben.

Seither versuchten die Rechtsanwälte, das TIP zur Herausgabe dieser Daten zu bewegen. Immerhin hat das Gericht sich dem Begehren der Rechtsanwälte angeschlossen und Ende August das TIB aufgefordert, die Daten ihm zu übergeben.
Als Mitte September der nächste Prozesstag anstand, hatte das TIB noch nicht reagiert. Dennoch wollte der Staatsanwalt sein Schlussplädoyer abhalten, worauf die Rechtsanwälte unter Protest den Gerichtssaal verließen.

Das TIB seinerseits behauptete, es könne die geforderten Daten nicht aushändigen, dies würde die Privatsphäre der infrage kommenden Personen verletzen! Man möge genauere Angaben machen, so z. B. die Namen derer, mit denen die unbekannten 4 Personen telefonierten und natürlich die Namen der Gesprächspartner nennen, dann könne man weiter sehen. Absurder geht es nicht mehr in einem Land, wo Telefonmitschnitte und Sexvideos mit schöner Regelmäßigkeit in den Medien nachgehört und nachgelesen werden können. Ob es Zufall ist, dass alle davon betroffenen in irgendeiner Weise Probleme mit der jetzigen Regierung haben? Zurück zum TIB: Es teilte mit, am 19. Januar 2012 würden diese Daten – gemäß den Regularien – endgültig gelöscht.

Nach diesem Skandal brach hektische Geschäftigkeit aus: 24 Abgeordnete des türkischen Parlaments und weitere nicht näher bekannte Personen schalteten sich ein, das TIB ruderte zurück und übergab die geforderten Daten am 2. Dezember dem Gericht. Am 5. Dezember, einem weiteren Prozesstag, konnte wegen der Kürze der Zeit darüber nicht befunden werden. Jedoch sagten die Rechtsanwälte, das TIB habe nur einen Bruchteil der angeforderten Daten geschickt und baten für die Sichtung des Materials um zusätzliche Zeit.

Und dann sagten sie an die Richter gewandt: „Dieses Gericht wird so oder so in die Geschichte eingehen. Entweder als das Gericht, welches das zerstörte Vertrauen in die Justiz wiederherstellt oder als das Gericht, welches die Tradition der politischen Morde fortsetzt.“

Am 12. Dezember versuchte der Tayfun Acarer, Vorsitzender der regierungseigenen Bilgi ve İletişim Teknolojileri Kurumu (BTK) (Information and Communication Technologies Authority), die Forderungen der Dink-Anwälte mit Desinformationen zu konterkarieren.

Trotz des sehr lückenhaften Datenmaterials, das das TIP ausgehändigt hatte, konnten die Anwälte der Familie Dink zum Prozesstag am 10. Dezember 2011 dem Gericht eine Liste vorlegen. Darin waren fünf Personen aufgeführt, die am 19.1.2007 am Tatort waren und mit den Angeklagten im telefonischen Kontakt standen. Weitere 14 Personen wurden ermittelt, die zwar nicht am Tatort waren, jedoch ebenfalls mit den Angeklagten telefonierten. Daran anknüpfend fragten die Anwälte: „Wenn wir in dieser kurzen Zeit zu diesen Ergebnissen gelangen konnten, wieso haben die Sicherheitsorgane, die über weit mehr Möglichkeiten verfügen, dies all die Jahre übersehen?“

Das Gericht wollte von diesen Ermittlungsergebnissen nichts wissen und kündigte für

den 17. Januar 2012 sein Urteil an. Derweil demonstrierten Hrant Dinks Freunde – wie immer friedlich – vor dem Gerichtsgebäude (Video 1).

Unmittelbar nach der Urteilsverkündung am 17. Januar 2012 verlas die Rechtsanwältin Fethiye Çetin (Video 2) eine engagierte Presseerklärung mit einem deutlichen Seitenhieb an die Adresse der AKP: „Es sieht so aus, als hätten die heutigen Machthaber, die in der Vergangenheit marginalisiert worden waren und Zielscheibe des Staates waren, heute sich mit jenen zusammengetan, die zuvor sie marginalisiert hatten.“

Tatsächlich haben alle Phasen dieses politischen Mordes während der Regierungszeit der AKP stattgefunden. Es war in jener Zeit, dass die Behörden von der bevorstehenden Ermordung Hrant Dinks Kenntnis hatten und dennoch nichts unternahmen. Daran erinnert nachdrücklich ein geheimes Schreiben der Sicherheitsbehörden aus Trabzon vom 17.02.2006, das Bianet diese Tage ins Gedächtnis rief.

Es war ebenfalls in jener Zeit, dass Beweismittel vernichtet, Verantwortliche bewusst mit Samthandschuhen angefasst wurden.

Konnte die AKP in früheren Jahren noch behaupten, es gebe Kräfte im Lande, über die sie nicht die vollständige Kontrolle habe, so verliert dieses Argument nach den vielen Verhaftungen im Rahmen der diversen Putschpläne zunehmend an Überzeugungskraft. Wieso konnten Sicherheitsorgane Unmengen an Waffen und Dokumente der angeblichen oder tatsächlichen Putschisten sicherstellen und sie – darunter sehr viele hochrangige Offiziere der türkischen Armee – hinter Schloss und Riegel setzen, im Falle Hrant Dink jedoch so eklatant versagen?

Wohl aus diesem Grunde haben unmittelbar nach Bekanntwerden des Urteils sowohl Staatspräsident Gül als auch Ministerpräsident Erdoğan sich öffentlich geäußert. Nein, das Gerichtsurteil bedeute nicht, dass der Mordfall Hrant Dink abgeschlossen sei. Es komme darauf an, was die nächst höhere Instanz, eben das Kassationsgericht, damit machen werde. Gül fügte hinzu, dass die unabhängige staatliche Kontrollkommission (DDK) – diese ist seit Anfang 2011 mit der unabhängigen Untersuchung des Dink-Mordes beschäftigt – bald seinen Abschlussbericht vorlegen werde.

Wollten Gül und Erdoğan mit ihren Äußerungen eine aufgebrachte mediale Öffentlichkeit lediglich ein wenig beruhigen, so hat das eine sehr begrenzte Haltbarkeit. Es kommt jetzt darauf an, zu welchem Ergebnis das Kassationsgericht bzw. davon unabhängig die staatliche Kontrollkommission DDK gelangen werden.

Die Rechtsanwälte und die Freunde von Hrant Dink haben unmittelbar nach der Urteilsverkündung mit deutlichen Worten klargemacht, dass sie alle juristischen Mittel mit großer Entschlossenheit ausschöpfen werden.

Der Mordfall Hrant Dink ist nicht nur deswegen so bedeutend, weil ein sehr prominenter Armenier von türkischen Nationalisten ermordet worden ist. Seine Aufklärung wird darüber hinaus der Paradigmenwechsel für all die anderen, bislang ungeklärten politischen Morde in der Türkei sein.

Nachtrag: In CNNTürk diskutierten am 18. Januar 2012 Fethiye Çetin, Aydin Engin und zwei Freunde von Hrant Dink über der Fall. Sehr empfehlenswert!

Siehe auch unsere anderen Texte zum Thema:

Gut geschützte Hintermänner im Hrant-Dink-Prozess

Mordfall Dink: Die Türkei vom EGMR verurteilt

Hrant Dink „ein weiteres Mal erschossen“

 

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