Hrant Dink „ein weiteres Mal erschossen“

Am 7. Oktober 2005 verurteilte ein türkisches Gericht im Istanbuler Stadtteil Şişli Hrant Dink zu sechs Monaten Haft. Hrant hatte im Zeitraum 30. Januar 2004 bis 13. Februar 2004 in Agos eine Artikelserie publiziert. Generalthema war die „obsessive Beschäftigung“ der „armenischen Diaspora“ mit der Türkei/den Türken. Der folgende Abschnitt führte zu einer Anzeige mit anschließendem Prozess: „Für die armenische Identität ist es sehr einfach, sich vom ‚Türken’ zu befreien: Sich nicht mit dem ‚Türken’ befassen. (…) [Stattdessen] sich fortan einfach mit Armenien befassen. Und das saubere Blut, das die Stelle des vom ‚Türken’ befreiten vergifteten Blutes einnehmen soll, gibt es in den edlen Adern, die der Armenier mit Armenien erschaffen wird.

Das Urteil wurde zunächst von einer unteren Instanz annulliert und vom Türkischen Kassationsgerichtshof (Yargıtay) bestätigt. Damit das Urteil rechtskräftig wird, hätte es formal des Beschlusses eines türkischen Gerichts bedurft, eine Formalie, denn nach der Stellungnahme des Kassationsgerichtshofs hätte dieses Gericht keine echte Wahl gehabt. Dazu kam es nicht mehr, Hrant Dink wurde am 19. Januar 2007 ermordet. Eine Woche zuvor hatte er sich noch an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg gewandt. Nach Dinks Ermordung wandte sich auch die Familie an den EGMR. Später wurden die beiden Prozesse zusammengelegt und die Republik Türkei zu einer Stellungnahme aufgefordert.

Am 13. August 2010 machte die Zeitung Vatan wesentliche Teile dieser Stellungnahme, die bereits im November 2009 dem EGMR vorgelegen haben soll, publik – auf der Webseite des türkischen Außenministeriums der Türkei sucht man sie vergeblich.

Die Kernargumente der Stellungnahme, die das türkische Justizministerium verfasst hat (einige Berichterstatter nennen das Außenministerium als Autor) und vom Außenministerium weitergeleitet worden ist, sind:

  1. Zu einer rechtskräftigen Verurteilung von Hrant Dink ist es letztinstanzlich nicht gekommen, weil Dink zuvor ermordet worden ist. Folglich hatte Dink kein Klagerecht.
  2. Die Familie von Dink hatte keinen direkten Schaden durch die Verurteilung von Dink gemäß Art. 301 des türkischen StGB. Folglich kann sie nicht als „Leidtragende“ gelten.
  3. Wenn der Staat das Recht auf Leben schützen soll, muss er im Besitz von Informationen sein, die diesen Schutz nahe legen. Gemäß dem EGMR müssen zunächst die Fragen „Wurden der Geschädigte oder seine Angehörigen tatsächlich bedroht? Hatten die Behörden Kenntnis davon? Hat man sinnvolle Vorkehrungen zur Vereitlung derselben getroffen?“ beantwortet werden, bevor man von der Verletzung des Rechts auf Leben sprechen kann. Wenn Dink tatsächlich bedroht worden wäre, hätte er sich an die örtlichen Dienststellen gewandt und um Schutz gebeten.
  4. Der EGMR hat zuvor die Bestrafung eines Führers einer Neonazi Organisation wegen seiner den Nationalsozialismus verherrlichenden Schriften für rechtens befunden. In demokratischen Gesellschaften sind solche Schriften geeignet, den Tatbestand der Volksverhetzung zu erfüllen und die öffentliche Ordnung zu stören. Nach einem Beschluss des Ministerrats des Europarats, der empfehlenden Charakter hat, sind „Hassreden“ zu verhindern. Dinks Artikel fällt unter die Kategorie „Hassrede“. Der Prozess hat nichts mit dem ethnischen Hintergrund der Familie zu tun.

Bewertung

Die Argumente in 1 und 2 sind formaljuristisch vielleicht korrekt, für den juristischen Laien sind sie lediglich zynisch.

Es ist unzählige Male vorgetragen und belegt worden: Die Behörden wussten von der bevorstehenden Ermordung von Hrant Dink und haben denoch nichts unternommen. Wenn die Verfasser der Stellungnahme nun behaupten, die Behörden hätten keine Kenntnis davon gehabt, so ist das eine dreiste Lüge. Eine Lüge ist es auch zu schreiben, Hrant Dink sei nicht bedroht worden oder habe nicht um Schutz gebeten. Dink hat in seinem letzten Artikel, symbolträchtiger Weise am Tage seiner Ermordung in Agos erschienen, die Dinge in aller Öffentlichkeit beim Namen genannt.

Schließlich die „Ausführungen“ unter Punkt 4. Diese sind – das sei hier vorausgeschickt – besonders geschmacklos.

Zum besseren Verständis ein Rückblick:

Anfang der 1980er Jahre wurde Michael Kühnen vom Landgericht Frankfurt am Main wegen Formulierungen in Pamphleten, die „gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet“ sind, verurteilt.

Kühnen – er stand der „Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten (ANS/NA)“, einer Neonaziorganisation, vor – hatte u. a. geschrieben, dass er den „Kampf für ein unabhängiges, sozialistisches Grossdeutschland“ anstrebe.

„Man nennt uns ‚Neo-Nazis‘! Na und? … Wir sind gegen: Bonzen, Bolschewisten, Zionisten, Gauner, Schieber und Schmarotzer. Wir sind gegen: Kapitalismus, Kommunismus, Zionismus, Überfremdung durch Fremdarbeitermassen, Umweltzerstörung. Wir sind für: Deutsche Einheit, Soziale Gerechtigkeit, Rassenstolz, Volksgemeinschaft, Kameradschaft”, so eine weitere von Kühnen benutzte Formulierung.

Wie weit Kühnen bereit war zu gehen, belegt eine weitere Äußerung von ihm: „Wer diesem Ziel dient, kann wirken, wer es behindert, wird bekämpft und schliesslich ausgeschaltet“).

(Die Zitate sind der Akte des EGMR zum Prozess „Kühnen_v._The_Federal_Republic_of_Germany_-_Admissibility_Decision“ entnommen).

Im Mai 1986 wandte Kühnen sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) – er untersteht dem Europarat – und berief sich auf die Art. 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) und 10 (Freiheit der Meinungsäußerung) der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Arbeitsgrundlage des EGMR. In seinem Urteil vom Mai 1988 wies der EGMR Kühnens Klage zurück und berief sich im Kern auf Art. 10, Absatz 2 der Konvention, der die in Art. 10, Absatz 1 umrissene Freiheit der Meinungsäußerung einschränkt: “Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.”

Wie kann man bei dieser Vorgeschichte überhaupt auf die Idee kommen, einen Neonazi wie Kühnen mit Hrant Dink, einem Menschen, der sein Leben für Frieden und Freiheit eingesetzt und Gewalt stets abgelehnt hat, gleich zu setzen / zu vergleichen?

Für wie inkompetent muss man den EGMR halten, um ihm die Gleichsetzung von Kühnens Hassreden mit Dinks Formulierungen und davon ausgehend die Abweisung von Dinks Klage vorzuschlagen?

Es kann nicht nur bei Fragen bleiben: Indem das türkische Justizministerium Dinks Artikel als „Hassrede“ qualifiziert – trotz zahlreicher Gutachten, die wiederholt belegt haben, nichts könne ferner liegen, als Dinks Artikel als „Hassrede“ zu bezeichnen -, bietet es Dinks Mördern entlastende Argumente frei Haus an. Diese können nunmehr sich darauf berufen und behaupten, Dinks „Hassreden“ hätten sie „aufgehetzt“. Wenn das Gericht diesen Argumenten folgt, können Dinks Mörder mit einer deutlichen Minderung des Strafmaßes rechnen (bis zu ein sechstel).

Reaktionen

„Wir schämen uns für diese beschämende Stellungnahme“, so die Gruppe „Hrants Freunde“, Dinks Bruder Hosrov stand „unter Schock“. „Hrant ist ein weiteres Mal erschossen worden“, so einige Medien. Es gab engagierte und erhellende Kolumnen, so auch die von Orhan Kemal Cengiz „Hrant Dink, the Nazis and a state that never apologizes“, Today’s Zaman, 18.8.2010.

Präsident Gül sagte: „Hrant Dink ist gestorben, weil der Staat nicht die notwendigen Maßnahmen ergriffen hat“ und gab so die Mitverantwortung des Staates an dessen Tod zu (BİA Haber Merkezi, 16. August 2010). Gül soll auch am 20. August mit Hrant Dinks Bruder Hosrof gesprochen haben.

Der türkische Justizminister Sadullah Ergin sagte, dass „die beiden Fälle (Kühnen und Dink, d. Red.) weder gleich noch verglichbar sind“ (Hürriyet Daily News, 16. August 2010). Außenminister Davutoglu gab sich in der Öffentlichkeit betont zerknischt: „Als ich am Sonntag (15.8.2010) diese Akte las, konnte ich deren Inhalt nicht akzeptieren … Es ist undenkbar, dass ich und der Justizminister weder als Intellektueller noch als Minister so etwas gut heißen können … Damit es künftig nicht zu solchen falschen Verteidigungen kommt, müssen wir alle die Freiheit der Meinungsäußerung einschränkenden Bestimmungen beseitigen.“ (Milliyet, 18.8.2010)

Beide Minister hatten seit November 2009 reichlich viel Zeit, sich kritisch mit dieser blamablen Verteidigung auseinanderzusetzen und daran noch etwas zu ändern. Ihre aktuellen kritischen Stellungnahmen können von daher als Versuche zur Schadensbegrenzung aufgefasst werden.

Konsequenzen müssen die Verfasser des Schriftstücks nicht befürchten: „Ich kann ihnen nicht böse sein, schließlich hat man sie damit beauftragt, den Staat zu schützen“, so Außenminister Davutoglu. Die Frage, wie sie diese Aufgabe lösen, spielte offenbar keine Rolle.

Man geht davon aus, dass der EGMR sein Urteil im September 2010 verkünden wird und sicher scheint auch zu sein, dass die Türkei dabei den Kürzeren ziehen wird, vermutet Radikal vom 22. August 2010. Wie die Türkei mit diesem Urteil öffentlich umgehen wird ist eine spannende Frage.

Letzter Stand: Wie heute (24. August) über die Medien zu erfahren war, hat der  EGMR im Sinne von Hrant Dink bzw. der Familie Dink entschieden. Das umfassende schriftliche Urteil soll Anfang September vorliegen.

Siehe auch unsere anderen Beiträge zum Thema:

Mordfall Dink: Die Türkei vom EGMR verurteilt
Gut geschützte Hintermänner im Hrant-Dink-Prozess

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